Wahrhaftig zum Sehen geboren
So charakterisierte Dolf Sternberger bei der Preisverleihung in seiner Laudatio den Büchner-Preisträger des Jahres 1978: Hermann Lenz. Der Wahl waren in der Jurysitzung vom 18. Juli 1978 ausgiebige und kontroverse Diskussionen vorangegangen. Das Protokoll gibt einen Einblick in die unterschiedlichen Vorstellungen, die Jurymitglieder bei dieser gemeinsamen Suche nach einem Kandidaten bestimmt haben. Neben dem gesundheitlichen Zustand „absolut preiswürdiger“ Autoren, der notwendigen Eigenständigkeit der Jury gegenüber „Lob und Verriß in der Presse“ oder dem Risiko, durch die erneute Auszeichnung eines „DDR-Flüchtlings“ den in der DDR lebenden Autoren zu schaden, stehen literarische Kriterien selbstverständlich im Mittelpunkt der Beratung.
Hermann Lenz wird erst relativ spät von Peter de Mendelssohn in die Juryberatungen eingeführt, dann aber von ihm mit „größtem Nachdruck“ empfohlen. „Sein Roman Neue Zeit müsse wohl als bestes Buch über die Zeit des Krieges bezeichnet werden.“ Gerhard Storz und Dolf Sternberger unterstützen den Vorschlag, Lenz sei eine „sehr individuelle Erscheinung in der gegenwärtigen Literatur“, ihn zeichne ein außergewöhnliches Beobachtungstalent, eine „erinnernde Deskription“ aus. Für ihn spreche auch, „daß man einen Mann auszeichnen würde, der sich niemals vorgedrängt habe. Zugleich würde die Akademie die Unabhängigkeit ihres Urteils unter Beweis stellen“.
Zur Abstimmung stehen kurz darauf Peter Härtling, Hermann Lenz und Martin Walser, die Stimmen der Jurymitglieder verteilen sich auf alle drei Kandidaten. Die Entscheidung für Lenz, die schließlich fällt, wird nur durch eine Regelung in der Geschäftsordnung möglich, dass im Falle der Stimmengleichheit das Votum des Präsidenten den Ausschlag gibt.
Die Darmstädter sind sauer, die Bonner stolz
Mit dieser Einschätzung eröffnet der Bonner Express seine Meldung von der Verlegung der Herbsttagung des Jahres 1978. Wie die gesamte Tagung findet nun auch die Verleihung der Akademiepreise am 27. Oktober in Bonn statt. Dieser Schritt geht zurück auf eine Anregung des Bundesinnenministeriums, das in der Kuratoriumssitzung der Akademie am 4. November 1977 vorgeschlagen hatte, die gesamte Herbsttagung mit der Preisverleihung im nächsten Jahr ausnahmsweise an den Ort einer in Bonn geplanten Ausstellung zum Georg-Büchner-Preis zu verlegen. Peter de Mendelssohn berichtet den Präsidiumsmitgliedern am 9. November 1977 in einem Brief und betont: „Dies widerspricht an sich unserer Tradition, den Büchner-Preis in Darmstadt, dem heimatlichen Orte Büchners zu verleihen. Aber die Stadt Darmstadt und das Land Hessen, deren Vertreter auf der Kuratoriumssitzung anwesend waren und auf die selbstverständlich Rücksicht zu nehmen war, waren mit diesem Vorschlag einer einmaligen Ausnahme von der Tradition einverstanden.“ Stattdessen werde nun die Frühjahrstagung 1978 in Darmstadt stattfinden.
Die Herbsttagung 1978 widmet sich, mit einem deutlichen Bezug zum Veranstaltungsort Bonn, dem Thema „Gedanke und Tat. Macht und Ohnmacht des Schriftstellers im Staat“. Die Frage nach dem Verhältnis der Literatur zu den „politischen Gewalten“ in der Bundeshauptstadt zu stellen, sei durchaus richtig gewesen, stellt V. Hage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Oktober fest und fährt fort, mit der Wahl von Hermann Lenz zum Büchner-Preisträger habe die Akademie bereits ein Signal gesetzt. „Der Preisträger ist ein Autor, von dem es nie politische Verlautbarungen gegeben hat. Wollte die Akademie auch diese Zurückhaltung würdigen, zumal die Zeremonie in Bonn besonders demonstrativ wirken konnte?“
Jedenfalls bemühe ich mich um Anschauung mehr als um Erkenntnis
Die Laudatio auf Hermann Lenz hält Dolf Sternberger – und er kommt noch einmal auf Neue Zeit zu sprechen, das Buch, das bereits in der Jurydiskussion eine Rolle gespielt hat: „Er hat seine Maxime selbst formuliert, eine Maxime des Lebens wie des Schreibens – ich zitiere sie aus diesem Buch, aus der Partie, die den Krieg im Osten, die Stellung an den Wolchowsümpfen betrifft, so ziemlich die elendeste Phase, erfahren und beschrieben aus der Perspektive, mit den Augen und Sinnen eines gewöhnlichen Soldaten: ‚Alles sehen‘, heißt es da (S. 185), ‚alles hören, alles spüren, alles riechen, was sich dir hier zeigt. Laß es in dich eindringen, nimm daran teil, dann wird es dir klar. Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr. Freilich, mehr, als daß du es erträgst, bleibt dir nicht übrig.‘ Es ist die wahrhaftigste und zugleich minutiöseste Schilderung einer Kriegserfahrung, die ich kenne, ihre Gewalt liegt in der eigentümlichen Lautlosigkeit, die da herrscht, das Ungeheuerliche ist durchweg in das Unscheinbare verwoben.
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‚Mehr, als daß du es erträgst, bleibt dir nicht übrig‘ – das ist ein Grundton dieses Werkes überhaupt, einer Epik der genauen Erfahrung, nicht der Klage und schon gar nicht der Empörung, wohl aber der betroffenen Wahrnehmung und des sehenden Ertragens.“
Maxime des Lebens wie des Schreibens
Es ist diese „Maxime des Lebens wie des Schreibens“, die einen deutlichen Kontrast zur engagierten Literatur der Zeit bildet. Peter Handke, der in einem Zeitungsbeitrag 1973 mit einer emphatischen Schilderung seiner Begegnung mit Hermann Lenz und seinen Texten nicht unerheblich zur Entdeckung dieses in der Stille der Randbereiche des Betriebs arbeitenden Autors beigetragen hat, würdigte 1975 die poetische Leistung von Neue Zeit: Es sei das erste Buch, „wo der Zweite Weltkrieg nicht in eine Vorzeit verschwindet, als eine letztlich doch besonnte Vergangenheit, sondern so atemberaubend gegenwärtig wird wie Kriege für meine ‚unerfahrene‘ Generation sonst nur in den Träumen“. (Der Krieg ist nicht vorbei. Hermann Lenz: Neue Zeit, in: Die Zeit, 30.5.1975)
In seiner Dankrede erklärt Hermann Lenz, ihm sei „eine literarische Arbeit, die sich darum bemüht, das Leben zu erkennen und das menschliche Zusammenleben darzustellen“, gemäßer als „jede agitatorische Anstrengung“. „Für mich ist Literatur eine Möglichkeit, zu mir selbst zu kommen. Trotzdem trete ich in meinen Büchern nicht als einer auf, der den anderen den Weg weist, denn dazu bin ich nicht befugt. Wenn sie aber dem Leser helfen, zu erfahren, wer er ist und sich seiner Zu- und Abneigungen bewußt zu werden, dann haben sie ihren Zweck erfüllt. Ich bemühe mich nämlich darum, mit Wörtern Anschauungsmaterial vorzuführen und Menschen, Landschaften und Dinge so sichtbar zu machen, daß ihre eigentümliche Beschaffenheit erkennbar wird, und meine, dies sei möglich, indem ich versuche, die Empfindungen der andern zu ergründen, mich in sie hineinzudenken.“
Am Schluss seiner Rede, die immer wieder um das Verhältnis der Literatur, seiner Literatur zu den Zeitläuften kreist, kommt Hermann Lenz noch einmal auf Georg Büchner zu sprechen: „Wenn ich mir vorstelle, Büchner wäre, wie ich, aus einem Weltkrieg zurückgekehrt, dann meine ich, er hätte wie manche, zu denen auch ich gehörte, an einen neuen Anfang geglaubt, an die Chance der Stunde Null. Aber es gibt keine ‚Stunde Null‘, denn Gegenwärtiges existiert nie ohne Vergangenes. Auch wollen wir uns der Zukunft erinnern, obwohl es nur Vergangenheit gibt; denn der Augenblick, da ich dies sage, ist schon wieder vergangen. Hoffen aber tun wir alle auf die Zukunft.“
Der Georg-Büchner-Preis 1951–1978 – die Ausstellung
Das Gute treffen wir mitten im Gewühl des Marktes oder auch abseits davon
„Der Büchner-Preis, meine Damen und Herren, will nichts andres als einen literarischen Rang kenntlich machen“ – mit dieser Erklärung beginnt Dolf Sternberger seine Laudatio auf Hermann Lenz, den Büchner-Preisträger des Jahres 1978, und er fährt fort: „Seine Verleihung, denke ich, sollte weder das Zeitgemäße als solches auszeichnen noch auch absichtsvoll sich ins Unzeitgemäße verbeißen. Dieser Preis ist weder dem Neuerer wegen seiner Neuerung noch dem Traditionalisten wegen seiner Traditionstreue, er ist weder den Jungen vorbehalten noch den Alten. Er kann so gut einem einzigen Wurf gelten wie einem Werk, das sich langsam im Gang eines Autorenlebens aufgeschichtet hat. Das alles ist vorgekommen. Der Preis – ich wiederhole es – gilt dem literarischen Rang, der sich in der Neuerung wie in der Überlieferungstreue, in der Zeitgemäßheit wie in der Zeitungemäßheit, im schmalen wie im mächtigen Œuvre, im Zuge unterschiedlicher Programme oder auch ohne Programm bewähren kann. Das Gute treffen wir mitten im Gewühl des Marktes oder auch abseits davon. Es macht nicht notwendig Sensation, aber es ist an sich selbst immer eine Sensation, man muß sie nur wahrnehmen können.“
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Es war sicher kein Zufall, dass Sternberger seine Rede auf den Preisträger des Jahres 1978 mit diesen grundsätzlichen Worten zum Büchner-Preis eröffnet. Er adressiert damit gezielt das politische Umfeld, in dem die ausnahmsweise in die Bundeshauptstadt Bonn verlegte Preisverleihung stattfindet. Zugleich können sie auch als ein Begleitkommentar zur im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg gezeigten Ausstellung „Der Georg-Büchner-Preis 1951–1978. Die Preisträger“ verstanden werden.
Bonn als Literaturparnass – Ausstellung zum Büchner-Preis
Mit diesen Worten feiert die Bonner Rundschau die am Vortag, am 11. Oktober, eröffnete Ausstellung. Erarbeitet wurde der Rückblick auf 27 Büchner-Preise vom Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Deutschen Akademie. Finanziell gestützt wird das gesamte Vorhaben durch den Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute e.V. aus Mitteln des Bundes. Die Schirmherrschaft hat Bundespräsident Walter Scheel übernommen, der auch an der Eröffnung teilnimmt. Überhaupt ist die Bonner Prominenz bei diesem Anlass gut vertreten. Die mit der Ausstellung und der Verlagerung der Tagung und Preisverleihung nach Bonn verbundene Hoffnung, die Akademie bei den Repräsentanten der Bonner Republik bekannter zu machen, scheint aufzugehen.
Markenzeichen moderner Literatur
Mit zahlreichen Manuskripten, Büchern, Briefen und ausgewähltem Bildmaterial zeichnet die Ausstellung die Geschichte des Büchner-Preises nach. Zusammen mit dem umfangreichen Katalog, der in Marbach erarbeitet worden ist, stellt sie die Geehrten vor und gibt einen Einblick in den Entscheidungsprozess der Jury. Die Mitglieder des jeweiligen Preiskollegiums werden präsentiert, ebenso die öffentlichen Reaktionen auf ihre Wahl und den Festakt der Preisverleihung. In der Ausstellung ist jedem Preisträger ein eigener Abschnitt gewidmet, im Katalog entsprechend jeweils ein Kapitel. Im Vorwort zum Katalog werden noch einmal zentrale Motive der Ausstellung wie auch des gesamten Bonner Programms erkennbar. Verfasst hat es das Akademiemitglied Bernhard Zeller, Direktor des Deutschen Literaturarchivs und Vorsitzender des Arbeitskreises selbstständiger kultureller Institutionen e.V. Es geht um eine Vergewisserung der Akademie über ihre Rolle im literarischen Leben, geradezu exemplarisch festgehalten im Tagungstitel „Gedanke und Tat“, nachgezeichnet in der Bilanz des von ihr seit 1951 vergebenen Büchner-Preises.
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So schreibt Zeller: „Unter den zahllosen deutschen Literaturpreisen der Gegenwart hat der Büchner-Preis seinen besonderen Rang; er gehört zu den profiliertesten Preisen, auch wenn er bei weitem nicht am besten dotiert ist. Zu einer Art Markenzeichen moderner Literatur ist er geworden, und die Namen der Preisträger repräsentieren ein gewichtiges Stück deutscher Nachkriegsliteratur. Sie kennzeichnen charakteristische Positionen dieser Literatur, zeigen die vielfachen Möglichkeiten des dichterischen Wortes, bekräftigen Stellung und Stellungnahme des Schriftstellers in Staat und Gesellschaft.“ (S. 5)
Hauptstadt wird zum Treff der Literaten
So titelt der Rhein-Sieg-Anzeiger am 7. Oktober seinen Bericht über das umfangreiche Veranstaltungsprogramm, das zwischen der Ausstellungseröffnung am 11. Oktober und dem Ausstellungsende am 26. November gemeinsam mit dem Kulturamt der Stadt Bonn organisiert wird. Von der Universität bis zum Theater, von der Buchhandlung bis zum Museum beteiligen sich zahlreiche Partner mit Diskussionsveranstaltungen, Lesungen, Filmvorführungen oder Konzerten.
Jetzt in Bonn, bald in Darmstadt
Vom 10. Februar bis zum 4. März 1979 wird die Ausstellung dann in Darmstadt, in den Ausstellungshallen auf der Mathildenhöhe gezeigt. Die Entscheidung, nach der Bonner Präsentation eine weitere Station in Darmstadt anzuschließen, war auch der Verärgerung vieler Darmstädter im Herbst des vergangenen Jahres über die Verlegung der Herbsttagung und der mit ihr verbundenen Preisverleihung nach Bonn geschuldet. Zwar war der Preisträger Hermann Lenz am 9. Oktober, noch vor der Verleihung in Bonn, zu seiner Büchner-Preis-Lesung nach Darmstadt gekommen, um wenigstens diese Tradition nicht abreißen zu lassen, doch erst mit dieser Heimkehr der Präsentation der Geschichte des Büchner-Preises nach Darmstadt beruhigen sich die Gemüter.