Schweigen versus Schreiben
Mein Schreiben beginnt, wenn es mir gelungen ist, mich vom Schweigen zu trennen, vom Stummsein, und Stummsein kann dabei heißen, sprachlos gemacht zu sein von den Verstörungen, die der Geräuschfilm der Realität im Kopf hinterläßt. „Dies Stummsein ist meine Verdammnis“, heißt es in einem Büchner-Brief, der den Zustand beschreibt, den wohl jeder Schreibende kennt, nämlich nicht schreiben zu können, wortlos zu sein. Diesen Zustand immer aufs neue zu beenden, dieser Verdammnis, zeitweilig oder lebenslang, zu entkommen, es ist unser Metier, und mitunter wundert es mich, daß dies ein Beruf ist, mit dem man seinen Lebensunterhalt bestreiten, eine literarische Existenz führen, daß man einen Preis, am Ende sogar den bedeutendsten im Land, dafür bekommen kann.
Elke Erb sagte: Was du kennen solltest, sind die Traumdeutung C. G. Jungs und die Gedichte Jürgen Beckers.
Das Gedächtnis der Landschaft und das Erinnern des Betrachters fragen sich ab, Orte-Lesen und Raum-Denken kommen zusammen für jene „vorläufige deutsche Nachkriegs-Topographie“, wie sie Jürgen Becker uns vor Augen stellt. Beckers Schreibweise zeigt, wie wir selbst in der Geschichte stehen, bevor sie in die späteren, reflektierten Formen gegossen ist. Und genau das macht die besondere Wirkung aus: der Schmerz über Verluste, die Bitterkeit, auch Freude – all das taucht scheinbar beiläufig, absichtslos und unvermittelt in den Gedichten auf, anlässlich einer Postkarte, einer Schubkarre, einer vergessenen Zigarettenmarke. Es sind die normalen und konkreten Dinge, an denen die Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer augenblicklich treffgenauen, nicht wiederholbaren Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart.
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Genau darin liegt der Grund für die Wirkkraft des Beckerschen Werks, der Grund dafür, dass es, im Goetheschen Sinne, Epoche gemacht hat, das heißt Bezugspunkt geworden ist für eine ganze Generation jüngerer Autoren wie Marcel Beyer, Nico Bleutge, Brigitte Oleschinski oder Norbert Hummelt, mich selbst nicht ausgenommen. Beckers Schreiben bringt uns die Geschichte nah, es verschließt sich nicht zum Zwecke seiner Ästhetik, einer literarischen Perfektion oder Absolutheit, es will kein Monolith sein, es markiert keinen Endpunkt, es ist nicht abgedichtet für oder gegen eine wie auch immer geartete Nachwelt, es entbehrt dieser Hypertrophie. Im Gegenteil, dieses Werk demokratisiert die Möglichkeiten, über Vergangenes zu sprechen, es ist eine mit ruhigem Ton, beiläufig, nahezu lässig vorgebrachte Ermutigung, die eigene Geschichte wahrzunehmen, überall, zu jeder Zeit und eben auch und gerade als Stoff.