Schweigen versus Schreiben

Mein Schreiben beginnt, wenn es mir gelungen ist, mich vom Schwei­gen zu trennen, vom Stumm­sein, und Stummsein kann dabei heißen, sprachlos gemacht zu sein von den Ver­störungen, die der Geräuschfilm der Realität im Kopf hinterläßt. „Dies Stumm­sein ist meine Ver­dammnis“, heißt es in einem Büchner-Brief, der den Zustand beschreibt, den wohl jeder Schrei­bende kennt, nämlich nicht schrei­ben zu können, wortlos zu sein. Diesen Zustand immer aufs neue zu beenden, dieser Verdamm­nis, zeit­weilig oder lebenslang, zu ent­kommen, es ist unser Metier, und mitunter wundert es mich, daß dies ein Beruf ist, mit dem man seinen Lebens­unterhalt bestreiten, eine literarische Existenz führen, daß man einen Preis, am Ende sogar den bedeu­tendsten im Land, dafür bekommen kann.

Jürgen Becker: Dankrede
Jürgen Becker, Büchner-Preisträger 2014
Jürgen Becker: Dankrede, gehalten am 25. Oktober 2014
Archiv der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Dauer: 00:25:04
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Jürgen Becker, Büchner-Preisträger 2014, beim Signieren in der Orangerie
Foto: Jürgen Bauer

Elke Erb sagte: Was du kennen solltest, sind die Traum­deutung C. G. Jungs und die Gedichte Jürgen Beckers.

Das Gedächtnis der Landschaft und das Erinnern des Betrachters fragen sich ab, Orte-Lesen und Raum-Denken kommen zusammen für jene „vorläufige deutsche Nachkriegs-Topographie“, wie sie Jürgen Becker uns vor Augen stellt. Beckers Schreibweise zeigt, wie wir selbst in der Geschichte stehen, bevor sie in die späteren, reflektierten Formen gegossen ist. Und genau das macht die besondere Wirkung aus: der Schmerz über Verluste, die Bitterkeit, auch Freude – all das taucht scheinbar beiläufig, absichtslos und unvermittelt in den Gedichten auf, anlässlich einer Postkarte, einer Schub­karre, einer vergessenen Zigarettenmarke. Es sind die normalen und konkreten Dinge, an denen die Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer augen­blicklich treffgenauen, nicht wiederholbaren Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart.

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Genau darin liegt der Grund für die Wirkkraft des Beckerschen Werks, der Grund dafür, dass es, im Goetheschen Sinne, Epoche gemacht hat, das heißt Bezugspunkt geworden ist für eine ganze Generation jüngerer Autoren wie Marcel Beyer, Nico Bleutge, Brigitte Oleschinski oder Norbert Hummelt, mich selbst nicht ausgenommen. Beckers Schreiben bringt uns die Geschichte nah, es verschließt sich nicht zum Zwecke seiner Ästhetik, einer literarischen Perfektion oder Absolutheit, es will kein Monolith sein, es markiert keinen Endpunkt, es ist nicht abgedichtet für oder gegen eine wie auch immer geartete Nachwelt, es entbehrt dieser Hypertrophie. Im Gegenteil, dieses Werk demokratisiert die Möglichkeiten, über Vergangenes zu sprechen, es ist eine mit ruhigem Ton, beiläufig, nahezu lässig vorgebrachte Ermutigung, die eigene Geschichte wahrzunehmen, überall, zu jeder Zeit und eben auch und gerade als Stoff.

Lutz Seiler: Laudatio
Jürgen Becker, Büchner-Preisträger 2014
Unverkennbar: Jürgen Becker in der Orangerie Darmstadt
Foto: Jürgen Bauer
Jürgen Becker und Lutz Seiler (Laudator)
Lutz Seiler: Laudatio, gehalten am 25. Oktober 2014
Archiv der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Dauer: 00:22:09
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Jürgen Becker und sein Laudator Lutz Seiler
Foto: Jürgen Bauer
Die Urkunde für Jürgen Becker