Am 15. März 1951 wird der Georg-Büchner-Preis von seinen bisherigen Trägern, dem Land Hessen und der Stadt Darmstadt, von einem Kulturpreis in einen reinen Literaturpreis umgewandelt und der am 28. August 1949 gegründeten Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung übergeben. Die vom Land und der Stadt unterzeichnete Preissatzung versinkt jedoch zunächst in den Wirren der Vorbereitung für die erste Auslandstagung der Akademie in der Schweiz. Am 1. Juni endlich informiert der Präsident Rudolf Pechel den Generalsekretär Oskar Jancke, er habe die von ihm nun auch unterzeichnete Satzung an die Stadt Darmstadt geschickt. Kurz darauf, am 16. Juni, erklärt die Akademie bereits den Georg-Büchner-Preis zu einem wichtigen Baustein ihres Selbstverständnisses. Die noble Geste von Stadt und Land verspricht, eines der zentralen Ziele zu erfüllen, das Jancke bereits 1948 für eine künftige Deutsche Akademie gesetzt hatte: sie müsse den „weitaus angesehensten Preis in Deutschland“ verleihen.
Die folgenden Wochen sind geprägt von einem intensiven Austausch über mögliche Kandidatinnen und Kandidaten für die erste Preisverleihung im Herbst. Die Mitglieder der Jury, bestehend aus dem Präsidium der Akademie und jeweils einem Vertreter des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt, reichen ihre Vorschläge beim Akademiesekretariat ein. Die am 20. August vom Akademiesekretär Oskar Jancke erstellte Zusammenfassung liest sich wie eine Momentaufnahme des Literaturbetriebs der Nachkriegsjahre. Neben Gottfried Benn, Stefan Andres oder Marie Luise Kaschnitz finden sich heute vergessene Namen wie Inge Westphal („sehr hohe und zarte Begabung“) oder Otto von Taube (ein hervorragender Mann). Es dominieren konservative literarische Positionen, die in unterschiedlicher Weise an Traditionen aus der Zeit vor 1933 anknüpfen.
Eine zentrale Figur in diesem Klärungsprozess ist der Generalsekretär Oskar Jancke, der die Kommunikation steuert. Bereits am 12. August erklärt Jancke gegenüber dem Akademiepräsidenten Rudolf Pechel: „Für Benn spricht sehr viel: Er ist, obgleich nun nicht mehr jung, doch ein Revolutionär in der Lyrik und heute als Haupt einer Schule anzusehen, von großem Einfluss auf die Jungen. Er ist international bekannt. Seine Auszeichnung kommt dem Ansehen des Preises, dem Ansehen der Akademie sehr zugute“. Schnell kristallisiert sich heraus, dass die Entscheidung zwischen Benn, Andres und Kaschnitz fallen wird. Am 3. September, kurz vor der entscheidenden Jurysitzung, mutmaßt Jancke bereits, dass „unschwer eine Einigung über Benn“ erzielt werden könne – es „bedarf dazu keiner langen Verhandlungen mehr“.
Am 15. September hat die Jury ihre Wahl getroffen: „Es herrscht Einverständnis darüber, dass der Büchner-Preis 1951 an Gottfried Benn fallen soll“. Damit hat sich der Kandidat durchgesetzt, der von den einflussreichen Vizepräsidenten Frank Thieß und Kasimir Edschmid sowie dem Sekretär Oskar Jancke, mit wohlwollender Unterstützung des Präsidenten Rudolf Pechel, von Anfang an favorisiert worden war. Gleich am nächsten Tag, am 16. September, schreibt Oskar Jancke an Gottfried Benn: „Ich darf Ihnen heute mitteilen, dass die Akademie Ihnen den Georg-Büchner-Preis für das Jahr 1951 zugedacht hat“.
Anfang Oktober wird die Wahl Gottfried Benns zum ersten Büchner-Preisträger der Akademie öffentlich gemacht: die mit der Akademie verbundene Zeitschrift „Das literarische Deutschland“ verkündet die Entscheidung am 5. Oktober, zeitgleich geht die Nachricht an die Presse.
Die Entscheidung für Gottfried Benn würdigt einen Dichter, der 1933 zunächst begeistert den „totalen Staat“ und die „Reinheit eines neuen Volkes“ begrüßt hatte, bevor er sich enttäuscht, geradezu angewidert abwandte: „Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus“, schreibt Benn 1934 an Ina Seidel. In den Ambivalenzen seiner Haltung, die Benn nun zum Programm eines grundsätzlichen Dualismus von Kunst und Leben erhebt, mochten sich 1951 viele seiner Generation wiedererkennen, zumal Benn nach 1945 mit Entschiedenheit seine frühe Distanzierung vom nationalsozialistischen Terrorstaat betont.
Gottfried Benn wird von der Akademie zu einem Zeitpunkt ausgezeichnet,
da der Dichter gerade wieder aus der, wie er es nennt: „aristokratischen Form
der Emigration“ in die literarische Öffentlichkeit zurückkehrt. „Das ist also
mein Come-back (Combak) nach 15 Jahren“, stellt Benn 1949 fest, als von ihm in
rascher Folge „Statische Gedichte“, „Der Ptolomäer“ und weitere Bücher
erscheinen.
1950 legt Benn mit „Doppelleben“ seine programmatische Behauptung
einer „Wahrheit gegenüber allen Lebensfakten“ während der NS-Zeit vor, mit der
Modellfigur der Distanzierung des Dichters von den Abgründen der Zeitläufte
bekräftigt er zugleich das Programm seiner Ästhetik: „In jedem Satz:
Alles.“ Benn wird, so Helmut Böttiger in
dem folgenden Beitrag, zum „literarischen Star der Jahre“ – sein „Geheimnis ist
sein Sound“.
Den „ungeheuren Ernst“, den Benn der literarischen Produktion abverlangt, fordert er auch von den Leserinnen und Lesern. Man könne doch nicht verlangen, beantwortet er 1955 im Rundfunk mit Schärfe eine Publikumsfrage, „dass ein Gedicht, überhaupt, dass irgendeine Kunst einem ohne Kampf zuwächst, dass man sozusagen alles hingelegt bekommt. Ihr Sinn ist ja, dass Sie sich ranarbeiten. Wir als Produzenten haben uns doch auch an unsere Dinge erbittert ranarbeiten müssen, ein ganzes Leben lang …“
Noch vor der Entscheidung über den ersten Büchner-Preisträger hatte die Akademie ihr neu gewähltes Mitglied Gottfried Benn zu einem Vortrag im Rahmen der Herbsttagung eingeladen. Dieser könne, so schlägt Oskar Jancke am 13. August vor, gerne an die Gedanken anschließen, die er am 21. August in Marburg vorzutragen gedenke – vielleicht ergänzt um einige Gedichte.
Der Marburger Vortrag über „Probleme der Lyrik“, den der Hessische Rundfunk überträgt, wird zu einem Schlüsseltext einer neuen Dichtergeneration. Es gebe wohl kaum einen jungen deutschen Lyriker, stellt Dieter Wellershoff in seiner Doktorarbeit über Benn 1958 fest, „der, so eigenartig und unverwechselbar seine Sprache sein mag, nicht von Benn beeinflusst worden ist.“ Peter Rühmkorf schreibt in seinen Erinnerungen 1972: „Dies war die dunkle Stunde, wo uns Gottfried Benn als eine leuchtende Beispielfigur erschien.“ 1986 bekräftigt er noch einmal gemeinsam mit Hans Magnus Enzensberger in einem Fernsehfeature zu Benns hundertstem Geburtstag diesen Einfluss. Man könne von ihm etwas lernen, „was man anderswo nicht lernen könne“. Und Enzensberger bekennt: „Ich war wütend auf Benn, ich hab ihn sehr bewundert, ich hab ihn sicherlich auch nachgeahmt, wissentlich oder unwissentlich …“
Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises wird von der Akademie für den 21. Oktober geplant. Zeitgleich mit der Veröffentlichung der Entscheidung für Gottfried Benn beginnen Anfang Oktober die Planungen für die Preisverleihung, in diesem Zusammenhang wird dann auch das Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk über eine Aufzeichnung der Zeremonie gesucht. Mit der Korrespondenz zwischen Darmstadt und der Redaktion „Kulturelles Wort“ des HR – an die sich andere Sendeanstalten anschließen werden – beginnt eine Zusammenarbeit, die, gemeinsam mit der Aufmerksamkeit der deutschen Zeitschriftenfeuilletons, die überregionale Wahrnehmung des Preises in den nächsten Jahren entscheidend fördern wird.
Der Büchner-Preis wird im Ausstellungsgebäude auf der Mathildenhöhe übergeben, in unmittelbarer Nähe zum kürzlich erst bezogenen Sitz der Akademie im Ernst-Ludwig-Haus. Der Saal der Feier habe, so hatte Rudolf Pechel erfreut festgestellt, „eine vorzügliche Akustik, ist sehr hell, ganz neu, quadratisch. Man braucht seine Stimme nicht anzustrengen.“
In seiner Würdigung des Preisträgers bekennt Pechel, „auch solche Dichter, deren Leistung objektiv anerkannt wird, sind niemals völlig unumstritten“. Und er fährt fort: „Eines wird niemand Gottfried Benn abzusprechen wagen, dass er mit einer Leidenschaftlichkeit sondergleichen immer gesucht hat, Distanz zu wahren – zu den äußeren Geschehnissen wie zu den eigenen inneren Erlebnissen.“
Die Urkunde, die der Präsident dem Preisträger überreicht, betont noch einmal die wichtigsten Argumente, die Oskar Jancke bereits früh für den Kandidaten ins Feld geführt hatte: die Form, die Benn im kühnen Aufbruch gegen die wandelbare Zeit gesetzt habe.
In der von der Akademie getragenen Zeitschrift „Das literarische Deutschland“ ist nach der Tagung zu lesen, die „Bevölkerung der kunstfreudigen Stadt Darmstadt“ habe den Veranstaltungen der Akademie ein „ungewöhnlich lebhaftes Interesse“ entgegengebracht. Insbesondere der „Höhepunkt der Tagung“, die „Feier der Übergabe des Georg-Büchner-Preises 1951“ habe ein „zahlreiches und kunstverständiges Auditorium gefunden“.
Die Reaktionen in den Medien sind überwiegend positiv. Unter der Überschrift „Glühende Berührung“ lobt das „Badische Tagblatt“: „In dem Lotteriespiel der deutschen Literaturpreise ist nach vielen Nieten endlich einmal ein Treffer gezogen worden.“ Und in der „Frankfurter Rundschau“ ist am 21.10. zu lesen: „Niemand wird dieser Auszeichnung widersprechen wollen; sie ehrt einen der stärksten und eigenartigsten Dichter unserer Zeit, eine einsame und einzigartige Gestalt… Auf dunkle Art hinreißend: das ist vielleicht die kürzeste Formel, die man für die Wirkung seiner Dichtung finden kann …“ Erwähnt wird aber auch die umstrittene Seite dieser Ehrung, so erinnert die Kölner „Welt der Arbeit“, Benn habe „1933 nicht das getan, was man von ihm erwartete. Seine heutige Ehrung sollte das nicht vergessen lassen“.
Auch der Preisträger schwärmt am 25. Oktober gegenüber seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: „Ein glorreicher Tag, der glänzendste meines Lebens, völlig gelungen in Stimmung, Äußerem u. Gesellschaftlichem.“ Dabei hatte der spätestens mit dem Büchner-Preis zum gefeierten Dichter avancierte Benn am 2. Oktober noch gegenüber seiner Tochter erklärt, der Preis sei „ja sehr angenehm, weil er etwas Geld bringt“ – die große Feierlichkeit sei ihm aber „sehr widerlich, aber für das Geld muss ich das erleben und über mich ergehen lassen.“ Wie hatte doch „Die Zeit“ am 18.10.1951 kurz vor der Verleihung diagnostiziert: „Aus Verfemung und betretener Stille wurde Ruhm. Er selbst, Benn, nimmt ihn mit der gleichen, ein wenig knurrigen Gelassenheit hin wie alles frühere …“
Nicht nur die Generation von Enzensberger oder Rühmkorf hat sich an diesem ersten Büchner-Preisträger der Akademie gerieben, Gottfried Benn bleibt auch weiterhin ein Bezugspunkt für Auseinandersetzungen. 2011 stellt Durs Grünbein, Büchner-Preisträger von 1995, in einer Rede Gottfried Benn, den Preisträger von 1951, in eine aufschlussreiche Konstellation mit Paul Celan, der 1960 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. „Mir ist klar“, so erklärt Grünbein, „dass damit ein Geschmack verletzt wird: Allein ihre Gegenüberstellung ist eine bodenlose Provokation.“