Erich Fried signiert
Was hätte Büchner zur offiziellen Umbenennung des gezielten polizeilichen Todesschusses in finaler Rettungsschuß gesagt, und zur ewigen polizeilichen Notwehr oder putativen Notwehr? [...] Ich erwähne das besonders, weil es heute auf den Tag genau 10 Jahre sind, seit Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Raspe in Stammheim jenen Selbstmord begingen
Erich Fried: Dankrede
Erich Fried nach der Büchner-Preis-Lesung am 16.10.1987 in der Orangerie Darmstadt
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

1987 ging der Büchner-Preis an Erich Fried. Die Preisverleihung endete mit einem Eklat. Mehr dazu in der Story Poet des Protests.

1987: Im Namen Georg Büchners

© Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Signatur R_4 # 19451 / 22

„Wenn Büchner das sehen könnte“

Den 150. Todestag von Georg Büchner wollte auch Darmstadt angemessen begehen. Im Mittelpunkt des Jubiläums­programms sollte eine Ausstellung auf der Mathildenhöhe stehen, deren Vorberei­tungsschritte mit einer eigens geschaf­fenen Zeitschrift seit Oktober 1986 den Darm­städter Bürgern präsentiert wurden. Die Ausstellungseröffnung fand am 2. August 1987 statt, neben dem Oberbürger­meister Günther Metzger und dem Leiter des Hessischen Staatsarchivs Eckhart G. Franz sprach auch der hessische Minister­präsident Walter Wallmann. Die Mit­glieder des Ausstellungsteams hatten bei ihrer Vorbereitung offen einbekannt, dass sie Büchner als Dichter und Revolutionär vorzustellen gedachten. Gegen eine derart politische Würdigung Büchners wandte sich Walter Wallmann in seiner Eröff­nungsansprache, genauer: gegen die politische Vereinnahmung des Dichters, dessen Engagement im Zeichen eines „ergreifenden sozialen Mitleids“ ge­standen habe, das aus den Zeitum­ständen verstanden werden müsse.

Ausstellungsplakat zum 150. Todestag Georg Büchners
Ausstellungsplakat zum 150. Todestag Georg Büchners
© Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Signatur R_2 # 2297

Kurz vor den Eröffnungsansprachen war es, wie Judith S. Ulmer rekonstruiert hat, im Foyer der Ausstellung zu Auseinander­setzungen zwischen protestierenden Mitgliedern der Grünen und Sicherheits­kräften gekommen. „Die Demonstranten hatten vorgehabt, den Ex-Stadtverord­neten Jürgen Barth, weiß geschminkt und schwarz gekleidet, als Leiche Büchners in einem Sarg durch die Ausstellung zu tragen. Auf diese Weise sollte gegen die Vereinnahmung des Dichters durch Politiker wie Oberbürgermeister Metzger und Ministerpräsident Wallmann hinge­wiesen werden, ‚deren Ansichten konträr zu den seinen‘ liefen. Darüber hinaus war an der Fassade der Ausstellungshalle ein Transparent mit einem Büchnerzitat angebracht worden: ‚Kommt einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für Euer Geld lustig machen.‘“*(Judith S. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals, Berlin – New York 2006, S. 270) Jürgen Barth wurde von den Veranstaltern angeboten, stattdessen zu Fuß durch die Ausstellung zu gehen – die Demons­tranten hielten jedoch an ihrem Vorhaben fest, woraufhin die Polizei einschritt.

© Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Signatur R_4 # 19451 / 9

Trotz der Unruhe im Foyer hatte der Eröffnungsakt inzwischen begonnen, die Unruhe erreichte jedoch auch das offizielle Programm. Nachdem Walter Wallmann seine Rede beendet hatte, unternahm Michael Will-Gärtner, Fraktionsgeschäfts­führer der Grünen, noch einmal einen Versuch, dem Protest Gehör zu verschaf­fen, und eilte zum Mikrophon. Doch auch dieser erneute Anlauf, vor den versam­melten Eröffnungsgästen die Kritik zu artikulieren, wurde verhindert und Will-Gärtner aus dem Saal geführt.

Das Publikum reagierte darauf sehr unter­schiedlich, mit ärgerlichen Kommentaren wie mit Beifallsbekundungen. Eine junge Frau rief: „Wenn Büchner das sehen könnte, würde er sich im Grab umdrehen!“

Beide Fotos © Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Signatur R_4 # 19451 / 7 und Signatur R_4 # 19451 / 25

Das Los des Literaturpreises

Auch die Akademie hatte mit ihrer Tagung auf das Büchner-Jubiläum reagiert und das Programm unter den Titel „Im Namen Georg Büchners: Das Los des Literaturpreises“ gestellt. In vier Vorträgen sollten historische, finanzielle und kulturpolitische Aspekte der Literaturpreise erörtert werden. Ergänzend zur großen Büchner-Ausstellung hatte die Akademie eine eigene kleine Präsentation der Büchner-Preisträger vorbereitet, auch eine Publikation wurde vorgelegt. Die Tafelausstellung im Hessischen Staatstheater Darmstadt und das Buch Der Georg-Büchner-Preis 1951-1987. Eine Dokumentation konnten auf einer ersten Präsentation des Büchner-Preises im Jahr 1978 in Bonn aufbauen, die damals in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach entstanden war.

Das von der Akademie organisierte Programm ist aufschlussreich. Es dokumentiert den Versuch, anlässlich des Jubiläums eine kritische Bilanz des von ihr seit 1951 im Namen Büchners vergebenen Preises zu ziehen und dies mit grundsätzlicheren Überlegungen zur Bedeutung von Auszeichnungen im Literaturbetrieb zu verbinden. Der erste Tagungsvortrag des Akademiepräsidenten Herbert Heckmann führt dies geradezu exemplarisch vor. Heckmann beginnt mit einem Rückblick auf frühere Formen der Würdigung, skizziert die mit der Entstehung einer bürgerlichen Lesekultur verbundenen Veränderungen und erinnert an die Anfänge des Büchner-Preises als Hessischer Kulturpreis in den Zwanziger Jahren. Am Schluss kommt er dann auf den Neubeginn nach 1945 der während der NS-Zeit abgebrochenen Geschichte des Büchner-Preises zu sprechen, zunächst noch einmal als Hessischer Kulturpreis und dann, ab 1951, unter der Regie der Akademie als reiner Literaturpreis für deutschsprachige Autoren, die „durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlich Anteil haben“. Diese in der Satzung formulierte „Bündigkeit“ sei dem Preis gut bekommen – und nun folgt eine Grundsatzerklärung zum Selbstverständnis des Büchner-Preises, deren zentrale Passagen hier aus der damals entstandenen Aufnahme wiedergegeben werden sollen.

Herbert Heckmann beendet seine Rede „Über die Schwierigkeit des Preisens“ mit einem Appell an die „Preisverleiher, nicht nur des Büchner-Preises“: „Worauf es jedoch einzig und allein ankommt, ist die Anerkennung der Unabhängigkeit, ist die Wachsamkeit für dichterische Beun­ruhigungen, ist das Gespür für die Trauer, daß die Welt so ist, wie sie ist, ist der Mut zu Utopien, ist die Zuversicht, ist die Hoffnung, ist die Verantwortung.“

Herbert Heckmann hatte in seiner Rede betont, dass Preise für ihre Empfänger in einem sehr praktischen Sinne notwendig seien. Dieser ökonomischen Dimension der Preisvergaben geht Hans Altenhein in seinem Vortrag über „Dichter Preis und Lohn“ nach. Er insistiert darauf, dass der geläufige Blick auf den „Sinn und Zweck von literarischen Preisverleihungen“ nicht ausreiche, Literaturpreise seien „sowohl eine Sache des literarischen Lebens, wie der Literaturpolitik, wie des literarischen Warenmarktes“.

Hans Altenhein untersucht an mehreren Beispielen das komplexe Geflecht von Interessen und Wirkungen, in dem Literaturpreise sich befinden – aber: zu reden sei schließlich nicht länger vom Preis, sondern vom „Lohn der schrift­stellerischen Arbeit“, von einer prekären Existenz, vor deren Hintergrund der Stellenwert von Preisen überhaupt erst erkennbar werde. Den Literaturpreisen, Stipendien und geldwerten Aus­zeich­nungen komme „die Bedeutung einer Ausgleichszahlung zu, die nicht nach sozialen, sondern nach literarischen Kriterien zugemessen wird“. Und er folgert: „Wenn Kultur die individuelle Teilhabe an einem gemeinsamen gesellschaftlichen Reichtum ist, dann entstehen der Öffentlichkeit Verpflicht­ungen, und zwar nicht nur gegenüber den immobilen Schau- und Sammelplätzen der Kultur, den alten Opern und neuen Museen. Das System der Kulturpreise findet hier, bei aller Mangelhaftigkeit und Ungerechtigkeit, seine Legitimation und Herausforderung, und Herausforderung heißt dann: kein Literaturpreis darf nur symbolisch dotiert sein.“

Über die Schwierigkeit des Preisens
Herbert Heckmann: Über die Schwierigkeit des Preisens (Ausschnitt)
Vortrag im Rahmen der Herbsttagung 1987
Dauer: 04:00 Minuten
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Herbert Heckmann © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Dichters Preis und Lohn
Hans Altenhein: Dichters Preis und Lohn (Ausschnitt)
Vortrag im Rahmen der Herbsttagung 1987
Dauer: 04:38 Minuten
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Hans Altenhein © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Der Büchner-Preis und die Kritiker
Heinrich Vormweg: Der Büchner-Preis und die Kritiker (Ausschnitt)
Vortrag im Rahmen der Herbsttagung 1987
Dauer: 01:12 Minuten
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Heinrich Vormweg © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Literaturpreise als Instrument
Hans Maier: Literaturpreise als Instrument der Kulturpolitik (Ausschnitt)
Vortrag im Rahmen der Herbsttagung 1987
Dauer: 01:17 Minuten
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Hans Maier © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Der folgende Vortrag setzt einen gegenläufigen Akzent, auch wenn Heinrich Vormweg sich zunächst dem „Büchner-Preis und die Kritiker“ zuwendet und fragt, welche Rolle den Kritikern im expandierenden System literarischer Auszeichnungen in der Bundesrepublik zukommt: „Kein Literaturkritiker kann vorgeben, er wissen nicht, wie die Literaturpreise, die sich ja seit Gründung der Bundesrepublik ständig vermehrt haben ringsum in den Ländern, vergeben werden. Die Kritiker hängen im Spiel mit drin.“ Doch aus diesem ausführlich entfalteten Befund entwickelt er den Verdacht, dass möglicherweise „die gesellschaftliche Bedeutung von Literatur sich bei so ausgiebigem gesellschaftlichen Applaus auf eine Weise verändert, die schon jetzt die Literatur selbst entstellt, ihre Ansprüche tendenziell bis zur Unkenntlichkeit angleicht, nivelliert, einschleift, ins Beliebige verzettelt und die Literatur damit um jene Verbindlichkeit bringt, auf die sich ihre gesellschaftliche Bedeutung gerade gründet.“ Vormweg stellt fest, Literaturpreise seien immer deutlicher in den Zusammenhang der Literaturförderung getreten. Damit verbindet er die Sorge, welche Folgen die erfolgreiche Verwirklichung der von Hans Altenhein erhofften sozialen Ausgleichsfunktion literarischer Auszeichnungen haben könnte, der „Herstellung erträglicher ökonomischer Verhältnisse für jene einzelnen, die schreiben und zu schreiben beginnen in einer Zeit, in der der Markt überfüllt ist und sich immer direkter auf Produkte für den Massenkonsum eingespielt hat, aber dennoch auch gesellschaftlich jenes Bedürfnis noch spürbar ist, das sich mit den Worten Lesen und Schreiben kennzeichnen lässt“ .

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Vormweg betont durchaus die Unterschiede innerhalb des expandierenden Felds literarischer Auszeichnungen, in dem der Büchner-Preis eine der schieren Quantität konträre Stellung einnehme. Er setze dem „Terror der Unterhaltungsindustrie“ den „historisch fundierten, innerhalb der heutigen Verhältnisse freilich als extrem elitär erscheinenden Anspruch einer Hochliteratur entgegen“ . Aber auch er müsse sich der Frage stellten, ob er, „statt regelmäßig Jahr um Jahr, nur bei extremen, ganz außerordentlichen Werken“ vergeben werden sollte. Vormweg räumt ein, dass er bei der von ihm eröffneten Alternative von notwendiger systematischer Literaturförderung einerseits und der Sicherung einer radikalen Eigenständigkeit der Literatur andererseits auch keine befriedigende Handlungsempfehlung wisse.

Im letzten Beitrag der Tagung spricht Hans Maier über „Literaturpreise als Instrument der Kulturpolitik“. Wer einen Preis stiftet, der will etwas, konstatiert Maier, jeder Preis setze Akzente, „öffentliche Wirkung ist immer dabei, wenn ein Preis verliehen wird, und damit auch ein wenig Politik – Literaturpolitik, Kulturpolitik. Dies wollten ja die Stifter, die Veranstalter in aller Regel auch erreichen“. Maier beobachtet die Geschichte literarischer Auszeichnungen unter dem Gesichtspunkt ihrer kulturpolitischen Funktion und endet bei einer Diagnose der aktuellen Situation.

Dies ist eine interessante Wendung, die der Historiker und ehemalige bayerische Kultusminister hier für die Politik als Akteur im Literaturbetrieb erhofft. Ergreift er doch im schwierig auszubalancierenden Autonomie-Verhältnis zwischen Politik und Kultur entschieden Position für ein förderndes und forderndes Engagement, mithin für eine, wie er es versteht, produktive Anteilnahme der Politik am literarischen Leben.

Das Verhältnis zwischen Kunst und Politik, dem Hans Maier in seinem Vortrag mit der Hoffnung auf einen sich produktiv befruchtenden Austausch begegnet, sollte am nächsten Tag wieder einmal seine eminente Konfliktträchtigkeit erkennen lassen. Der Eklat bei der Verleihung des Büchner-Preises an Erich Fried und dem sich an den Festakt anschließenden Empfang hat in erschreckender Deutlichkeit demonstriert, wie empfindlich diese Beziehung ist.

Zur Story Erich Frieds: Poet des Protests