So, Sie schreiben also Gedichte

Vor zwanzig Jahren, ich war damals wissenschaftlicher Assistent, ließ mich mein Chef zu sich rufen und sagte: „So, Sie schreiben also Gedichte!“ Er hatte sie gedruckt vor sich liegen. Und nach einer Pause, die ich als sehr lang in Erinnerung habe, sagte er: „Naja, auch Sie werden noch vernünftig werden.“ Damit war ich wieder entlassen.

Reiner Kunze: Dankrede
Reiner Kunze während seiner Dankrede
Reiner Kunze: Ausschnitt aus der Dankrede, gehalten am 21. Oktober 1977
Archiv der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Dauer: 00:01:28
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Reiner Kunze, Büchner-Preisträger 1977
Foto: Pit Ludwig

Jetzt ist Kunze hier, und seine Fernsehansprache, die er, kranker Mann, mühsam, Wort für Wort, sich entrang (so sah es manchmal aus), war auch und vor allem eine Ansprache an seine Freunde drüben. Das erklärt, warum uns abgebrühten Westlern manches merkwürdig auf die Seele fiel. „Die Erde und die Menschen sind überall schön“ [...]. „Man muß einander Zeichen geben.“ Solche Sätze, gesprochen mit schwerem Augenaufschlag, klangen pathetisch und wirklichkeitsfern. Aber Kunze kommt aus einer anderen Wirklichkeit, aus einer deformierten Welt, wo die innere Emigration und die demütigen Gefühle etwas anderes bedeuten als hier. Dort sind sie vielleicht die einzige Rettung [...]. Kunze wird sich an unsere Wirklichkeit gewöhnen müssen, und es ist gut, daß er das weiß. Auf unsere Kulturindustrie anspielend sagte er, er beabsichtige nicht, sich durch häufige Publikationen im Gerede zu halten [...]. „Es wird lange Zeit still um mich werden.“ [...] bald wird er nicht der verfolgte DDR-Lyriker sein, sondern der Dichter Reiner Kunze. Nicht mehr und nicht weniger.

Grn.: Kunzes Ankunft, in: FAZ, 20.4.1977, zit. nach: Der Georg-Büchner-Preis 1951–1987. Eine Dokumentation, Piper Verlag, 1987

Ich neige nicht zur Indoktrination

Zunächst aber ein paar Worte zu Ihnen, Reiner Kunze. Wenn ein Autor aus einem sozialistischen Land hinausgeworfen oder hinauskomplimentiert wird, werde ich gelegentlich von Freunden oder Kollegen gebeten, ihn zu warnen, vor den Fleisch- und Wehrwölfen des nackten Antikommunismus, vor falschen Freunden und Spekulanten, vor der Vermarktung, vor den Gefahren, die seiner hier lauern. Ich habe mich immer standhaft geweigert, diese Funktion zu übernehmen, selbst dann nicht, wenn die professionellen Ausbeuter von Schicksalen ihr Opfer in eine Front zu rücken versuchten, die letzten Endes sich gegen mich richtete.

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Ich neige nun einmal nicht zu Indoktrination, ich gehe davon aus, daß ein Autor, wenn er auch nur auf der untersten Ebene diese Bezeichnung verdient, wahrnehmungs- und ausdrucksfähig genug ist, Gefahren selbst zu erkennen; daß die Gefahr, der er entronnen ist, ihn nicht unempfindlich macht für die Gefahr, in die er gerät. Denn Gefahr besteht immer und überall. Dem Autor der Wunderbaren Jahre und der Zimmerlautstärke habe ich nichts beizubringen. Ich habe über Sie geschrieben, habe nichts zurückzunehmen, nichts zu korrigieren, nur ein wenig hinzuzufügen.

Heinrich Böll: Laudatio
Urkundenandruck