Die politische und kulturelle Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre prägte nahezu alle Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens – und so wurden jetzt auch die Preisverleihungen der Akademie zum Schauplatz der Auseinandersetzungen. 1965 erhoben konservative Demonstranten vor der Darmstädter Orangerie gegen den Büchner-Preisträger Günter Grass den Vorwurf der Pornographie.
1966 traf vor der Verleihung ein anonymer Brief ein, der aus Protest gegen „eine art zentralredaktion der deutschen literatur“ damit drohte, bei der Veranstaltung Senfgas ausströmen zu lassen; 1968 forderte „die darmstädter studentenzeitung“ ein Mitspracherecht der Studenten bei der Wahl des Büchner-Preisträgers sowie eine deutliche Verjüngung der Akademie, dieser „schönen Gesellschaft literarischer Greise“, außerdem verteilten Demonstranten ein Flugblatt gegen den Preisträger Golo Mann; 1969, während der Verleihung des Preises an Helmut Heißenbüttel, stürmten schließlich Schüler und Studenten die Bühne und warfen der Akademie einen Verrat an Georg Büchner vor.
Am 6. Juni tritt die Jury zusammen, um über den Georg-Büchner-Preis 1969 zu beraten. Die Diskussion läuft auf die Alternative Martin Walser oder Helmut Heißenbüttel zu, weitere Vorschläge für den Büchner-Preis werden für künftige Sitzungen zu Protokoll gegeben: Thomas Bernhard, Siegfried Lenz, Elias Canetti, Ilse Aichinger. Walser „hat Volumen“, er „kommt in Frage“, heißt es in den handschriftlichen Notizen des Generalsekretärs Ernst Johann, Heißenbüttels Verdienst sei die „Erhellung der Sprache“ (Storz). Karl Krolow hält ein entschiedenes Plädoyer für Heißenbüttel und dessen „Erweiterung der lyrischen Möglichkeit“, er sei „Klassiker des Experiments“, die „neben Celan wichtigste lyrische Figur“.
Wolfgang Weyrauch vermerkt daraufhin, das artistische Engagement sei größer als das politische, und ein Jurymitglied gibt zu bedenken, ob man sich mit der Wahl Heißenbüttels nicht vom „Schirmherrn Büchner“ entferne. Hier wird ein zweiter Gesichtspunkt der Diskussion erkennbar, der neben der sogleich wieder vom Präsidenten Gerhard Storz betonten „literarischen Qualität“ immer wieder ins Spiel kommt. Heinz Winfried Sabais, der Vertreter der Stadt, betont, dass man doch gar nicht wisse, „mit welcher politischen Gesinnung Büchner gestorben ist“, und Dolf Sternberger fragt: „… entsprechen die Kandidaten 69?“ Schließlich wird abgestimmt: acht Stimmen für Heißenbüttel, eine dagegen, eine Enthaltung.
Die Protestaktion während der Verleihung des Büchner-Preises war kein spontaner Ausdruck der Kritik an einem herausgehobenen Ritual kultureller Repräsentation, getragen wurde sie von einer Bewegung der Darmstädter Schüler und Studenten, die sich gegen die Entlassung des Studienassessors Heinz Lüdde an der Georg-Büchner-Schule zur Wehr setzten. Dieser war bereits zuvor an einer anderen Schule wegen unliebsamer politischer Aktionen „aufgefallen“ und „zur Bewährung“ nach Darmstadt versetzt worden.
Dort beharrte er jedoch auf seinem Unterrichtsstil, arbeitete im Unterricht mit Comics statt mit dem üblichen Lehrmaterial, las mit der 10. Klasse Alexander Kluges Ein Liebesversuch und Martin Walsers Die Erdkundestunde. Mit der 9. Klasse entwarf er einen Fragebogen zum Thema Sexualkunde. Diese, wie ihm vorgehalten wurde, pädagogisch völlig verfehlte Aktion führte im September schließlich zu seiner Entlassung aus dem Schuldienst. Schnell entwickelten sich ausgehend von der Georg-Büchner-Schule Solidaritätsaktionen für den Lehrer, bis hin zu einem Schulstreik.
Die Unruhen erreichten schließlich auch die Technische Hochschule. Die Proteste, aber auch die öffentlichen Debatten über neue, antiautoritäre Erziehungsformen, sexuelle Freizügigkeit oder über notwendige Reformen des Bildungssystems waren im Oktober auf ihrem Höhepunkt angelangt, als die Preisverleihung bevorstand.
Zwei Tage vor der Preisfeier suchte Axel Azzola, Dozent bei den Juristen an der TH Darmstadt, das Gespräch mit dem Kulturdezernenten Sabais. Er kündigte eine geordnete Demonstration am Rande der Verleihung an und sicherte zu, dass die Veranstaltung nicht gesprengt werde; nur eine Resolution solle verlesen werden. Sabais empfahl daraufhin „größtmögliche Duldung“, der Akademiepräsident müsse aber vorab unbedingt informiert werden.
Am Morgen vor der Preisverleihung las Helmut Heißenbüttel in einer „öffentlichen Arbeitssitzung“ der Akademie aus „Gespräch über Studenten und verwandte Gegenstände“, einem Text, der den Jargon der intellektuellen Debatten um 1968 zum Material seiner Methode der Beobachtung und Reorganisation genommen hatte.
Die dadurch provozierten Reaktionen der „jungen Leute“ empfanden viele Akademiemitglieder als Störung, jedoch entschied der Akademiepräsident Gerhard Storz schließlich: „lassen wir sie reden …“. Ernst Johann stellte in einem Rückblick auf die Ereignisse während der Tagung fest, bis jetzt habe sich das Gespräch unter den Mitgliedern auf „der entsprechenden Höhe“ bewegt, die Schüler und Studenten aber „hatten wenig zu sagen“. Diese doch eher geringschätzige Haltung wurde von Heißenbüttel in der Situation wohl nicht geteilt. Er unterstützte das Recht der Protestierenden, sich an der angekündigten Diskussion über „Poesie und Politik“ zu beteiligen, konnte doch die Wirkung seines Textes, durch den die Sprache und ihr Gebrauch zum Gegenstand der offenen Debatte wurden, nur willkommen sein.
Nachdem der Sigmund-Freud-Preis und der Johann-Heinrich-Merck-Preis übergeben waren, erwartete die Festgemeinde mit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises nun den Höhepunkt der Feierlichkeiten. Stattdessen erklang aus dem Saalhintergrund eine Glocke und eine Gruppe von Demonstranten bewegte sich durch den Mittelgang auf die Bühne zu. Der Hessische Rundfunk hat diese Ereignisse des Nachmittags aufgezeichnet und damit das Aufeinandertreffen der Protestkultur mit den Gepflogenheiten der Akademie festgehalten, ebenso wie den Kontrast zwischen der klugen, den klassischen Formen der Laudatio folgenden Rede Karl Krolows auf den Preisträger und dessen anschließender, die Konvention irritierenden Dankrede.
Die auf ihrem Rederecht bestehenden Jugendlichen, die den geordneten Ablauf der Preisverleihung durcheinanderbrachten, waren offenkundig nicht der einzige „Störfall“, der für Irritationen der versammelten Festgemeinde sorgte. Auch die Art, wie Helmut Heißenbüttel „Anlass und Konzept einer Rede“ zum Gegenstand seines Vortrags machte, löste bei vielen Verwunderung aus: „Eine Rede ist eine Rede heißt eine Rede ist eine geredete Rede … Das Konzept der Rede entwickelt sich aus dem Anlass der Rede. … Der Anlass dieser Rede hängt mit dem deutschen Schriftsteller Georg Büchner zusammen. … Soll ich über das Werk Büchners reden? Soll ich über die Person Büchners reden?
Soll ich über die politischen Überzeugungen Büchners reden? Soll ich über mein persönliches Verhältnis zum Werk Büchners reden? …“ Wie Judith Ulmer herausgearbeitet hat, verweigerte sich der Preisträger den konventionellen Formen der Dankrede und stellte die Strukturen des sprachlichen Handelns aus, die der öffentlichen Ehrung zugrunde lagen. Er handelte subversiv.
Deutlich lässt sich dies an einem kleinen Nachspiel zu Heißenbüttels Dankrede ablesen: Kurz nach der Verleihung traf eine „Schatten-Rede Georg-Büchners“ bei der Akademie ein, die, im Namen Georg Büchners und den Rede-Stil Heißenbüttels imitierend, dessen Auszeichnung kritisierte: „So etwas ehren Sie mit einem Preis?“ In dem Entwurf für eine Antwort des Akademiepräsidenten wird deutlich, auf welch großes Unverständnis der Preisträger mit seiner Dankrede getroffen war. „Hätten wir diese Rede gekannt, aber sonst nichts vom gleichen Autor, dann hätten wir … nicht eine Sekunde lang daran gedacht, ihm den Preis zu verleihen.“
Ernst Johann schildert in einem „Nachbericht“ seine Sicht der turbulenten Ereignisse: „Heute weiß man, daß die Schüler und SDS-Studenten beabsichtigt hatten, die Feier der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am Samstagnachmittag derartig zu stören, daß der Preis überhaupt nicht verliehen werden konnte.“
dass die Vertreter der Akademie ihnen das zuvor zugestandene Recht, ihren Protest vor der Verleihung des Büchner-Preises der versammelten Festgemeinde kundtun zu dürfen, nun plötzlich verweigerten. Und dies, obwohl sie sich an den angekündigten Ablauf ihrer Aktion gehalten hatten und von ihnen nicht zu verantworten war, dass die Situation so turbulent aus dem Ruder lief.
Dabei waren die Reaktionen des Publikums recht heterogen, sie reichten von einer Unterstützung des Protests bis zum empörten Ruf nach entschiedenem Durchgreifen der Polizei – die dann auch die Demonstranten aus dem Saal eskortierte. Ein Kriminalbeamter, der die Auseinandersetzungen miterlebt hatte, resümierte danach: „die jungen Linken“ hätten „sich noch nie so höflich verhalten“, „Aggressivität und Tätlichkeit seien im Gegenteil von den vorderen Stuhlreihen ausgegangen“.
kurz nach der Preisverleihung in einem Rundfunkgespräch, wie sehr ihn die Ereignisse beschäftigten und belasteten.
Die Kritik der protestierenden Jugendlichen richtete sich nicht nur gegen die Weigerung, ihnen im Rahmen der Preisfeier die versprochene Möglichkeit einzuräumen, ihre Resolution vorzutragen – womit für sie noch einmal der Verrat an dem Patron des Preises bewiesen war. Zurückgewiesen wurde auch die Preisentscheidung für Helmut Heißenbüttel als Vertreter einer vermeintlich formalistischen, sich den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verweigernden Literatur.
Damit rückte der Preis in den wieder einmal entbrannten Streit zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Lagern der experimentellen und der engagierten Literatur, wobei gerade auch das Beispiel Heißenbüttels zeigt, wie wenig hilfreich dieser Dualismus für das Verständnis literarischer Texte ist. So hätte die Kritik der Demonstranten am Ritual der Preisverleihung in der Rede des Preisträgers gerade ihren Verbündeten finden können. Was macht Heißenbüttel denn anderes, als dass er die Rede zum Gegenstand seiner Rede macht, die Sprache zum Gegenstand der Sprache – und damit zum Gegenstand einer die Konventionen verstörenden Erfahrung.
Im folgenden Beitrag, der mit der Erinnerung an die damalige Verleihung einsetzt, betont Klaus Ramm, Heißenbüttel habe mit seinen Schreibweisen auf die gesellschafts- und kulturpolitischen Herausforderungen reagiert – „nicht auf inhaltliche Weise, sondern dezidiert methodisch“. Die Veränderung der Verhältnisse sei von der des Denkens nicht zu trennen.
Rückblickend könnte vielleicht von einer merkwürdigen Konstellation des Nicht-Verstehens gesprochen werden, in der sich die Ratlosigkeit mancher Akademiemitglieder mit der Kritik der Demonstranten traf. Den Kontrahenten des „Störfalls“ blieb die ungewöhnliche Rede des Preisträgers und das diese tragende ästhetische Konzept mit seinen kulturellen wie politischen Implikationen fremd.
Martin Lüdke hat in seine Fernsehsendung, die im September 1996 kurz nach dem Tod Heißenbüttels ausgestrahlt wurde, Studioaufnahmen von 1981 aus dem Archiv des Hessischen Rundfunks einbezogen, so auch die folgende Lesung des Textes „Politische Grammatik“, der 1961 im „Textbuch 2“ erschienen ist. Hier wird noch einmal deutlich, wie Heißenbüttel das Politische noch an der Grammatik sichtbar macht.
Diesen Appell formulierte der Darmstädter FDP-Politiker Hermann Kleinstück in einem offenen Brief nach der turbulenten Preisfeier und er folgerte: „auch Georg Büchner mußte von der Polizei aus dem Saal geführt werden, unter kräftiger Mithilfe der herrschenden Gesellschaft.“ Doch nicht nur die städtische Politik stritt darüber, ob den demonstrierenden Schülern die Gelegenheit hätte gegeben werden müssen, ihre Resolution zu verlesen, auch in der Presse wurde deutliche Kritik am „Akademismus“ dieser „inzuchthaft sich auswählenden Gruppe“ geäußert, am unbeirrbaren Festhalten am „Ritus“. „Dieser Tag ist kein Ruhmesblatt in den Annalen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ stellte das „Darmstädter Tagblatt“ fest. „Die Zeit“ wunderte sich am 25.10., dass sich „noch Institutionen finden, die so offensichtlich versagen, wenn gesellschaftliche Antagonismen in sie hineingetragen werden“.
Der vom damaligen Generalsekretär Ernst Johann nach der Tagung verfasste Bericht dokumentiert die Ratlosigkeit, in der sich die Organisatoren der Veranstaltung anschließend wiederfanden: „unsere – vom schönsten Herbstwetter begünstigte – Tagung wurde zum ersten Mal ernsthaft zu stören versucht“. Bald aber setzte in der Akademie eine rege Auseinandersetzung über die Form der Preisverleihung ein, die auch die Mitgliederversammlung während der Frühjahrstagung 1970 bestimmte.
Festgehalten wurde schließlich am öffentlichen Charakter der Preisverleihungen, auch an Laudatio und Büchner-Preis-Rede. Nicht durchsetzen konnten sich Fritz Martini und einige weitere Mitglieder mit ihrem Antrag, dass künftig bei Protestaktionen und Störungen die Preisfeier abgebrochen werden sollte – die Akademie dürfe keinesfalls unter Polizeischutz tagen. Doch auch über das inhaltliche Profil der Zeremonie wurde rege diskutiert: Ernst Kreuder beispielsweise wollte die Feier künftig näher an Büchner sehen, „weniger akademisch und mehr revolutionär“, ein anderer warnte vor einer „Kanonisierung unseres Helden“.
Am Ende sollten die Preisverleihungen aber doch unverändert bleiben, die Akademie wollte sich nicht dem Druck der gesellschaftlichen Turbulenzen beugen.