Kein Georg-Büchner-Preis 1952

Unter dieser Überschrift – mit dem Zusatz: „Unerfreuliche Hinter­gründe“ – berichtet am 10. Oktober 1952 die Rhein-Neckar-Zeitung über die Aufforderung des Darmstädter Oberbürgermeisters Ludwig Engel, in diesem Jahr von einer Verleihung des Büchner-Preises abzusehen. Engel hatte in einem Brief am 13. September 1952 erklärt, die Stadt beobachte „mit steigender Sorge die jüngste Entwicklung der Akade­mie“, der sie „Gastfreundschaft gewährt“ habe, und er stellt fest: „daß die Akademie ihre Tätigkeit ohne eine Reform ihrer Arbeitsweise schwerlich wird fortsetzen können“.

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Angesichts der Probleme der Akademie bitte er daher gemeinsam mit dem Kultusminister des Landes Hessen darum, „daß die Verleihung des Georg-Büchner-Preises unter­bleibt“. Die Aussetzung des im vergangenen Jahr erstmals unter der Regie der Akademie vergebenen Georg-Büchner-Preises und die sich im Hintergrund abspielenden Konflikte innerhalb der Akademie prägen in den Monaten bis zur Herbsttagung die öffentliche Wahrnehmung der Akademie.

Brief von Getrud von Le Fort an Oskar Jancke, 18.10.1952
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Es kracht im Ge­bälk der Akademie

Dieses Urteil über den Zustand der Akademie fällt das Darmstädter Tagblatt am 15. Oktober. Die internen Auseinandersetzungen werden mittlerweile auf öffentlicher Bühne ausgetragen und gefährden nicht nur den Büchner-Preis, sondern auch die Fortexistenz der Akademie. Ein Auslöser der Konflikte ist die Lage der Zeitschrift der Akademie Neue literarische Welt. Die Zeitschrift, die zunächst unter dem Namen Das literarische Deutschland erschienen war, hatte der Generalsekretär der Akademie Oskar Jancke als ein wichtiges Instrument konzipiert, um die öffentliche Wahrnehmung der Akademie zu befördern.

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Das Projekt hatte sich jedoch immer stärker in wirtschaftliche Schwie­rigkeiten manövriert, zudem litt es unter sich verschärfenden kulturpolitischen Richtungs­kämpfen, die bis in die Akademie hineinwirkten. Schließlich eskalierten die Auseinander­setzungen um Einfluss innerhalb der jungen Akademie. Sie führten schließlich zum Rücktritt des Präsidenten Rudolf Pechel und zur Neuwahl des Präsidiums, außerdem wurde ein vorbereiteter Entwurf über „die künftige Organisation und die Aufgaben der Akademie“ in der Mitgliederversammlung während der Herbsttagung am 24. und 25. Oktober 1952 verabschiedet.

Unterschriften der Anwesenden Akademiemitglieder bei der Mitgliederversammlung
Eine ausführliche Darstellung der Auseinandersetzungen im Jahr 1952 findet sich in:
Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Erarbeitet von Helmut Böttiger unter Mitarbeit von Lutz Dittrich. Göttingen/Darmstadt 2009.
Anwesenheitsliste der Akademiemitglieder bei deren Versammlung am 25.10.1952.
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

… kaum anders als ein Eingriff aufgefasst werden kann

Die Stadt Darmstadt ist in diesen Auseinandersetzungen insofern Partei, als sie an einer Konsolidierung der Akademie ein verständliches Interesse hat. Oskar Jancke sieht sie jedoch nicht mehr als die Person, die dazu in der Lage wäre, diese Ent­wicklung zu befördern – sie setzt auf andere Akteure, wie den in Darmstadt ge­schätzten Kasimir Edschmid. Die Aussetzung des Büchner-Preises ist ein Druck­mittel, das eingesetzt wird, um die Akademie zur Klärung ihrer Schwierig­keiten zu nötigen. Dass dabei auch das Interesse der städtischen Kulturpolitik an einer er­folgreichen Entwicklung der Akademie erstmals offen mit deren Autonomie­anspruch kollidiert, dies zeigt der auf das Schreiben des Oberbürgermeisters vom 13. September sich entspinnende Briefwechsel mit dem Präsidenten. Dieser Konflikt kann erst zu Beginn des nächsten Jahres und in einer neuen Personen­konstellation vorläufig befriedet werden.