„Nach einiger Diskussion ergab sich Einigkeit darin, für den Büchner-Preis an erster Stelle Max Frisch vorzuschlagen“, diktiert Gerhard Storz, Vizepräsident der Akademie, nach der Präsidialsitzung vom 1. April 1958 ins Protokoll. Heinrich Böll und Ernst Schnabel seien auch genannt worden und könnten „für die nächsten Jahre ins Auge gefaßt“ werden. Auch von der Stadt Darmstadt war im März an erster Stelle Max Frisch genannt worden, ergänzt durch weitere mögliche Kandidaten, darunter Wolfgang Koeppen, der von der Stadt bereits 1957 vorgeschlagen worden war. Die Entscheidung für Frisch scheint nach der Sitzung festzustehen.
Doch es kommt anders. Als am 4. Mai das Erweiterte Präsidium zusammentritt und Hermann Kasack als Präsident von dem Ergebnis der Präsidialsitzung berichtet, entwickelt sich eine „längere Aussprache“, Widerspruch gegen die Nominierung von Max Frisch wird laut: „Hagelstange und Lehmann treten für Böll anstelle von Frisch ein. Schließlich herrschte allgemein eine Neigung für Böll vor.“ Dies wird nun auch beschlossen, allerdings mit einer für die Rolle der Partner Darmstadt und Hessen aufschlussreichen Einschränkung. Im Protokoll heißt es: „Beschluß: Die Akademie nominiert Böll; – für den Fall, daß daraus eine ernstliche Kontroverse mit der Stadt oder dem Land entsteht, zieht sie diesen Vorschlag zurück und stimmt für Frisch.“
Was nun folgt und nur aus einigen Hinweisen rekonstruiert werden kann, ist ein zweimonatiges Ringen zwischen der zunächst vom Präsidium in Übereinstimmung mit dem Votum der Stadt Darmstadt vorgesehenen Auszeichnung Max Frischs und der dagegen kurz darauf im Präsidium getroffenen Vorentscheidung für Heinrich Böll. Eine wichtige Rolle in dem aufbrechenden Konflikt spielt dabei, wie am Präsidiumsbeschluss vom 4. Mai abzulesen ist, das Verhältnis zur Stadt Darmstadt. Wie die Satzung aus dem Jahr 1951 geregelt hat, entscheidet über den Preis das Präsidium der Akademie „unter Mitwirkung“ je eines Vertreters von Stadt und Land, die den Preis finanzieren. Dass für genau diese Mitwirkung bisher keine verbindliche Form gefunden worden ist, hatte im vergangenen Jahr zu einem heftigen Konflikt geführt, nachdem Stadt und Land mit der Entscheidung der Akademie für Erich Kästner als Preisträger des Jahres 1957 konfrontiert worden waren.
Vor diesem Hintergrund wird die Vorsicht der Präsidiumsmitglieder, nachdem sie sich mit der Nominierung von Heinrich Böll gegen den Vorschlag der Stadt ausgesprochen haben, verständlich. Hermann Kasack versucht daher kurz nach der Präsidiumssitzung die Stadt und das Land in den Entscheidungsprozess doch noch einzubinden und schlägt einen Termin für „eine Beratung des Preiskollegiums für den Georg-Büchner-Preis“ vor. Auf den Brief, den Kasack am 13. Mai an den Kulturreferenten Heinz-Winfried Sabais schickt, folgt bereits am nächsten Tag ein ausführliches Schreiben des Oberbürgermeisters Ludwig Engel an den hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung Arno Hennig, in dem er dem Kollegen noch einmal „die Situation“ schildert.
Über die weitere Entwicklung der Auseinandersetzung in den nächsten Wochen sind keine Unterlagen aufzufinden, dokumentiert ist einzig, dass der Konflikt in einer Akademiesitzung am 10. Juli sein Ende findet: die Akademie stimmt dem von der Stadt gemachten Vorschlag über Max Frisch zu. Am 5. August hält der Präsident Hermann Kasack gegenüber dem Darmstädter Oberbürgermeister noch einmal fest, „bekanntlich“ habe sich das Erweiterte Präsidium am 10. Juli mit dem Vorschlag Max Frisch einverstanden erklärt, und berichtet, dass er inzwischen Max Frisch über seine Wahl zum Büchner-Preisträger 1958 informiert habe. Dieser habe daraufhin geantwortet, er freue sich „gerade über diesen Preis, weil es ein deutscher Preis ist und ein literarischer Preis“.
Doch damit sind die Wirren um die Preisentscheidung keineswegs beendet. Am 19. August 1958 erscheint in der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung ein Artikel unter der Überschrift „Warum nicht Brentano? Kritik am Büchner-Preis“. Darin ist zu lesen, dass ursprünglich Bernard von Brentano Kandidat für den Preis gewesen sei, durchaus auch mit Unterstützung von Stadt und Land, nun sei jedoch der Büchner-Preis Max Frisch zugesprochen worden. „Die jetzt publik gewordene Zurücksetzung eines grundanständigen Menschen – eines freilich auch jeglichem sensationellen Auftreten abholden Schriftstellers! – wird von manchem Kenner der zeitgenössischen deutschen Literatur bedauert werden. Es erscheint ungut und nicht lobenswert, daß die Darmstädter Dichter-Akademie eine solche Kränkung – und das ist diese Umdirigierung des Büchner-Preises – verursacht hat.“
Durch den Artikel und seine Kritik an der Jury ist die Entscheidung für Max Frisch in der Öffentlichkeit, noch bevor die Akademie selbst das Ergebnis des Auswahlprozesses publik machen konnte. Nun folgen öffentliche Erklärungen und Richtigstellungen der Akademie, die den Behauptungen der Rhein-Neckar-Zeitung entgegentreten und die tatsächlichen Abläufe zu erklären suchen. Zugleich setzt intern eine Diskussion darüber ein, wie aus einem vertraulichen Juryverfahren Informationen durchsickern und angereichert mit Gerüchten in die Zeitung gelangen konnten, mit Folgen für einen der zunächst diskutierten Kandidaten wie auch für die Akademie.
Neben der Wahl des Büchner-Preisträgers gerät im Sommer noch ein zweites Thema in die öffentliche Debatte: die Öffnung des Preises für die gesamte deutschsprachige Literatur. Die 1951 verabschiedete Satzung des Georg-Büchner-Preises sah vor, zur „Verleihung können Deutsche Schriftsteller und Dichter aus dem gesamten Bundesgebiet vorgeschlagen werden“. Mit dieser Begrenzung auf das Bundesgebiet wäre eine Verleihung des Preises an den Schweizer Max Frisch nicht möglich gewesen.
Bereits vor der Präsidialsitzung vom 1. April hatte jedoch ein Austausch zwischen dem Präsidium und den an der Entscheidung zu beteiligenden Vertretern der Stadt Darmstadt und des Landes Hessen über eine Änderung der Satzung des Büchner-Preises begonnen. Am 21. Februar 1958 hatte der Darmstädter Magistrat dann wieder einmal über die Öffnung des Preises beraten und am 21. März 1958 folgte auch der entsprechende Erlass des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung zur Neufassung des § 4. Statt „deutsche Schriftsteller und Dichter aus dem gesamten Bundesgebiet“ heißt es dort nun: „Zur Verleihung können Schriftsteller und Dichter vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben“. Damit ist eine Verleihung des Büchner-Preises an den Schweizer Schriftsteller Max Frisch zum Zeitpunkt der Beratungen des Präsidiums am 1. April von der Satzung gedeckt.
Die Initiative zur Änderung der Preissatzung ist allerdings noch älter und diente anfänglich keineswegs der Vorbereitung einer Juryentscheidung für Max Frisch. Sie geht zurück auf Überlegungen, die der Darmstädter Kulturreferent Heinz-Winfried Sabais bereits 1957 der Akademie vorgetragen hatte. Am 17. Oktober 1957 befasste sich daraufhin das Präsidium mit den „Anträgen des Kultur- und Pressereferenten Sabais“; an den handschriftlichen Protokollnotizen ist der Widerstand innerhalb des Präsidiums gegen die vorgeschlagenen Veränderungen abzulesen: „Vorschlag persönl. Gespräch des Präs. mit Sabais. Zeitschrift und Erweiterung des Preises nicht vorgesehen.“
Offenbar blieb dieses Gespräch zunächst ohne Ergebnis, denn es war erneut die Stadt Darmstadt, die im Februar 1958 initiativ wurde, an die Akademie herantrat und auf eine Öffnung des Büchner-Preises für die gesamte deutschsprachige Literatur drängte. Das Land Hessen, das vom Darmstädter Oberbürgermeister Engel bei diesem erneuten Vorstoß einbezogen wurde, reagierte am 21. März grundsätzlich positiv. Der Minister für Erziehung und Volksbildung Arno Hennig betonte, diese Änderung sei sogar „notwendig“. Da nun jedoch bereits Max Frisch als einer der möglichen Kandidaten im Gespräch sei, könne man mit dieser Satzungsänderung vielleicht besser noch etwas warten.
Die Irritationen in der Akademie wirken noch bis zur Herbsttagung und der Sitzung des Erweiterten Präsidiums am 6. November 1958 nach, in der die Ereignisse im Vorfeld der Preisverleihung an Max Frisch erneut Thema sind. Das Protokoll hält fest, wie sehr die Akademie sich immer noch unter Rechtfertigungsdruck sieht: „Obgm. Engel soll gebeten werden, darauf hinzuweisen, daß kein Kausalzusammenhang zwischen der Satzungsänderung (Verleihung auch an Ausländer) und der Entschließung für Frisch besteht.“ Als der Darmstädter Oberbürgermeister „im Namen der Stifter des Georg-Büchner-Preises“ am 8. November in der Kongresshalle auf der Mathildenhöhe die Feierlichkeiten eröffnet, wird er deutlich: „Die Absicht, den Preis aus seiner geographischen Begrenztheit zu lösen, hat lange bestanden. Es entspricht einfach seinem Namen, daß er für literarische Leistungen aus dem größeren Geltungsraum der deutschen Sprache verliehen wird. Daß nun der erste Preisträger anderer als deutscher Staatsangehörigkeit ein Schweizer und ein Zürcher ist, erfüllt uns mit Freude. Zürich war Georg Büchners Exil Heimat. Dort fand er in seinen letzten Lebensjahren Anerkennung, Freundschaft, Freiheit.“
Die anfänglich zögerliche Haltung der Akademie gegenüber einer Öffnung des Preises für deutschsprachige Kandidaten ist aufschlussreich. Innerhalb der Akademie waren die Konflikte um ein angemessenes Verhältnis zu den von den Nazis ins Exil getriebenen Autoren noch immer nicht bewältigt, auch rang die Akademie noch um ein offenes Verständnis dessen, was zur deutschen Literatur gehört, das sich vom nationalsozialistischen Zugriff auf die deutschsprachigen Nachbarn und ihre Kulturen deutlich absetzt. Hinzu kam die Erwartung, dass die schließlich 1958 vollzogene Satzungsänderung in der Öffentlichkeit nicht nur auf Zustimmung stoßen dürfte. Mit der Öffnung des Büchner-Preises stellt die Akademie nun für sich jedoch die Frage nach dem Umfang der deutschen Literatur neu. Die Dankrede von Max Frisch bei der Preisverleihung könnte auch wie seine persönliche Antwort hierauf verstanden werden.
1958 ist für Max Frisch das Jahr der Ernte. Er erhält neben dem Georg-Büchner-Preis noch weitere Auszeichnungen, allerdings beginnt das Jahr mit einem Preis, den er zuerst partout nicht annehmen will, dem Prix de Charles Veillon. Drei Jahre zuvor hätte Frisch eigentlich schon für den Roman Stiller mit diesem durchaus angesehenen Literaturpreis ausgezeichnet werden sollen, doch man überging ihn damals aus „formalen“ Gründen. Nun kämpft Frisch gegen eine „Grämlichkeit“, die ihn zögern lässt, seinen 1957 erschienenen Roman Homo faber einzureichen. Sie richtet sich nicht gegen den Unternehmer Veillon, höchstens gegen die Statuten seines Preises.
Frisch missfällt, dass er sich aktiv darum bemühen soll. Eine Auszeichnung müsse eine Überraschung sein. Er sträubt sich gegen jene, „die meine Ehrsucht ködern“ und die als Mäzene „unter dem leidigen Druck der Arriviertheit plötzlich ihre Abneigung vergessen“, ihm auf die Schulter klopfen, das handwerkliche Können preisen und hoffen, die politischen und gesellschaftskritischen „Schlacken“ (zum Beispiel im Stiller, der sein eigenes Nest beschmutzte oder im Stück Don Juan von 1953, das die Ehe frivolisiert habe) würden bald verschwinden, „damit man mir dann die Auszeichnungen für Konformismus, der nicht viel Talente anzumelden hat, zuerkennen kann – sie sollen mich am Arsch lecken!“(Max Frisch an Karl Schmid, 26.2.1958) Er nimmt den Veillon-Preis schließlich doch entgegen, lässt gar eine Laudatio des hochdekorierten, aber während des Zweiten Weltkrieges äußerst fragwürdig für den Völkerbund und das Internationale Komitee vom Rote Kreuz agierenden Diplomaten Carl J. Burckhardt über sich ergehen, der Frischs Künstlertum lobt, „das aus den Niederungen des Widerwillens zu reinster Vision zu führen vermag“.(Internationaler Charles Veillon-Preis 1957 für den deutschen Roman, Pressecommuniqué, Lugano, 18.5.1958.)
Anfang August 1958 folgt dann eine wirkliche Überraschung: der Büchner-Preis. Der Juryvorsitzende Hermann Kasack teilt ihm die Nachricht mit, und Frisch weiht sogleich seinen Verleger Peter Suhrkamp ein: „Fein! Nur kostet’s wieder eine Rede. Dies noch vertraulich.“(Max Frisch an Peter Suhrkamp, 2.8.1958) Angesichts der Tatsache, dass Suhrkamp mit manchen Jurymitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung eng verbunden ist, so mit Hermann Kasack, Hanns W. Eppelsheimer und Rudolf Alexander Schröder, wirkt es rührend, wenn Frisch glaubt, seinem Verleger ein großes Geheimnis anzuvertrauen, und auf Diskretion drängt.
Suhrkamp kennt die erfreuliche Nachricht längst, andererseits scheint er, der mit seiner Krankheit zu kämpfen hat, die Statutenänderung zugunsten von ausländischen Kandidatinnen und Kandidaten missverstanden zu haben. Denn er antwortet Frisch, er wisse zwar von der Auszeichnung. „Komisch ist dabei, dass eben vorher beschlossen worden war, der Preis dürfe an Ausländer nicht verliehen werden. Somit werden Sie gleichzeitig zum deutschen Inländer erhoben.“(Brief Peter Suhrkamp an Max Frisch, 5.8.1958) Es verhält sich gerade umgekehrt. Die Verantwortlichen der Deutschen Akademie, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt sind sich schon vor der Wahl Frischs einig gewesen, dass der Georg-Büchner-Preis künftig auch an ausländische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache verliehen werden soll. Frisch profitiert als erster von dieser Neuausrichtung.
Den Preis fasst er als ein starkes Bekenntnis zu seinem bisherigen Gesamtwerk auf, ein Bekenntnis, das nicht zufällig aus der Bundesrepublik Deutschland kommt, während ihn die eigenen Landsleute nicht selten „aus politischen und konfessionellen Gründen“(Max Frisch an Peter Suhrkamp, 7.10.1953) bei den wichtigen Preisvergaben übergangen oder mit Aufmunterungsgaben und Unterstützungsbeiträgen für einzelne Arbeiten abgespeist haben. Noch 1975, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, betont er die Bedeutung des Büchner-Preises, „auch weil er ziemlich früh gekommen ist“. Die Anerkennung aus Deutschland habe ihm nicht zuletzt in der Schweiz geholfen. Tatsächlich beeilt sich Frischs Heimatstadt Zürich, dem schwierigen Sohn nun ebenfalls ihren höchsten Literaturpreis zuzuhalten, eine Ehrung, die selbst für die Frisch nicht immer gewogene Neue Zürcher Zeitung wie eine Verlegenheit wirkt.
Es klingt widersprüchlich: Mit der Verleihung des Büchner-Preises akzeptiert und integriert ihn der westdeutsche Literaturbetrieb – ist es deshalb nicht kokett, in der Preisrede explizit auf einem „Gefühl der Unzugehörigkeit“ zu beharren? Frischs „Skepsis gegenüber der eignen Arbeit“ kann aber, wie er sagt, „durch Preise nicht verscheucht werden“. Auszeichnungen seien bestenfalls „ein nützlicher Ausweis für Salonfähigkeit“.(Peter Suhrkamp an Max Frisch, 5.8.1958; Max Frisch an P. Rotthoff, 28.5.1975, Durchschlag; Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek, Zürich)
Wie viel ihm der Georg-Büchner-Preis bedeutet, lässt sich schon an der Arbeitszeit ablesen, die er in die Rede investiert. Einen ganzen Monat soll er sich damit beschäftigt haben, teilt er dem Freund Philippe Pilliod mit. (Philippe Pilliod fertigte nach einem gemeinsamen Abend im Zürcher Lokal Odeon (30.11.1958) eine Zusammenfassung des Besprochenen an. Die Notizen finden sich im MFA. Mitte der Achtzigerjahre führte Pilliod fürs Fernsehen die „Gespräche im Alter“ mit Frisch.) An seine neue Lebensgefährtin Ingeborg Bachmann schreibt er am 3. Oktober 1958, er habe zur Vorbereitung die Büchner-Preisrede von Marie Luise Kaschnitz aus dem Jahr 1955 gelesen, einer guten Bekannten von Bachmann, die er in Rom bald auch persönlich kennenlernt. Er empfindet ihre Rede als „schön, echt, sie beglückt mich, weil sie nicht unerreichbar ist.“(Max Frisch an Ingeborg Bachmann, 3. Oktober 1958, Ingeborg Bachmann/Max Frisch: »Wir haben es nicht gut gemacht. Der Briefwechsel«, Berlin 2022, S. 46)
Siegfried Unseld erfährt wenige Tage später, die Arbeit an der Rede sei „nicht einfach“.(Max Frisch an Siegfried Unseld, 10.10.1958)
Zum Ausgangspunkt nimmt er, dass er als erster ausländischer Autor den Büchner-Preis erhält und dieser damit zum ersten Mal in die Schweiz geht, also in ein Exilland, das im 19. Jahrhundert Büchner und andere Geflüchtete aufnahm, im Ersten Weltkrieg begründeten Migrierte in Zürich sogar eine neue Kunstrichtung, den Dadaismus. Nach 1933 kamen dann die von den Nationalsozialisten Vertriebenen. Frisch vergisst nicht, von den vielen Namenlosen zu sprechen, die im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze „zurückgewiesen wurden in den sicheren Tod“. Aber auch für die Manns oder Musils sei die Schweiz damals keine Loge gewesen, wie man nach 1945 in Deutschland fälschlicherweise annimmt, sondern, so Frisch, eine „Mausefalle“.(Max Frisch: Gesammelte Werke, Band 4, S. 231.)
Ein ehemaliger Migrant wird 1958 in einzelnen deutschen Zeitungen neben Frisch als weiterer Kandidat für den Büchner-Preis ins Spiel gebracht: Bernard von Brentano, der als radikaler Linker in den Dreißigerjahren Brecht in seinem Schweizer Exil unterstützte, sich dann aber immer mehr zum Nazismus bekannte und nach dem Krieg die Schweiz verlassen musste. Er zählt gewiss nicht zu den Geflüchteten, die Frisch in seiner Preisrede im Auge hat.
Das „Gefühl der Fremde“, von dem er spricht, bezieht sich ohnehin auf den inneren Vorgang des Schreibens, auf das „Abenteuer der Darstellung“, auf das, was für ihn als Schriftsteller im Zentrum steht.(Die Emigranten-Rede ist in der Kernaussage bereits im Tagebuch 1946-1949 angelegt. Dort heißt es, „irgendwie ist man immer ein Ausländer“, sobald man über etwas schreibe, was man nicht persönlich erlebt hat, also fast immer. Genauer dazu: Julian Schütt: „Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs“, Berlin 2011, 422ff.) Viele zeitgenössische Autorinnen und Autoren verbinde etwas „Emigrantisches“. Er hat dabei nicht die ihm eher suspekte „Innere Emigration“ im Sinn, auch wenn gerade im Umfeld von Peter Suhrkamp und der Büchner-Preisjury (Kasack, Edschmid, Hagelstange, Schröder) manchen diese politische und intellektuelle Haltung während der NS-Zeit vertraut war.
Das Emigrantische, wie es Frisch beschäftigt, besteht darin, „dass wir nicht im Namen unserer Vaterländer sprechen können noch wollen“, sondern nur als Gemeinschaft von Einzelnen jenseits von Landes- und Sprachgrenzen. Frisch nimmt, vielfach Büchner beschwörend, eine Reihe von Präzisierungen vor. So will er weder einem vagen Internationalismus das Wort reden noch der damals schicken „Heimatlosigkeit der Linken“ applaudieren. Mit der „produktiv-stillschweigenden Absage an die Vaterländer“ ist also nicht gemeint, dass man sich als Schriftsteller dem eigenen Menschenschlag nicht mehr stellen soll. Das wäre ebenfalls bloß eine Flucht, so Frisch, die Flucht in eine literarische Sackgasse. Er hat auch nicht die „europäische Integration“ im Auge, die aber wohl kommen müsse, wie er hinzufügt, er meint schließlich auch nicht das Aufheben des Nationalen zugunsten des Blockdenkens im Kalten Krieg.
Der eigene Wohnort solle den Schreibenden „das unausgesprochene Gefühl der Unzugehörigkeit gestatten“. Er zitiert seinen schwierigen Freund Friedrich Dürrenmatt, der sagt, die Schweiz sei ihm „kein Problem, es tut mir leid, sondern halt ein angenehmer Ort zum Arbeiten“.
Frisch geht es um ein Gefühl der Fremde, das nicht melancholisch sei, sondern ein klares, trockenes, modernes Gefühl, wie er es schon in seinem Tagebuch 1946-1949 beschrieben hat: „Heimat ist unerlässlich, aber sie ist nicht an Ländereien gebunden.“ Sie sei eher an einzelne Menschen geknüpft, „wo unsere Wellenlängen übereinstimmen“.(Er zitiert die 1949 geschriebene Tagebuch-Passage explizit in seiner Rede, Gesammelte Werke 4, S. 240.) Der individuelle Standort, wie er ihn versteht, sucht die nötige Freiheit, um möglichst absichtslos „in jener bedingungslosen Aufrichtigkeit gegenüber dem Lebendigen“ zu schreiben. Und das Lebendige habe es in sich, Widerspruch zu sein, es zersetze die Ideologie, es banne die Abstraktion, überwinde die Gegensätze des Kalten Krieges.
Das fertige Manuskript schickt Frisch an Peter Suhrkamp und auch an seine ehemalige Freundin Madeleine Seigner, in deren Nachlass sich ein Exemplar erhalten hat. Frisch will sich in der Rede erst gar nicht auf die Frage einlassen, ob er die Auszeichnung „denn auch verdiene und wieso gerade ich“. Er sei einfach nur dankbar für den „Lorbeer, der unsere Selbstbezweiflung nicht überwuchern wird“. Ein ausführliches Feedback zur Rede erhält er von seinem Verleger, der selbst bei der zweiten Lektüre „wieder so begeistert und erregt“ gewesen sei wie bei der ersten. „Das Ergebnis, zu dem Sie am Ende kommen, ist wesentlich und richtig, und es ist gut, dass es heute gesagt wird: [...] der zu leistende Bann gegen die Abstraktion, gegen die Ideologien und ihre tödlichen Fronten; die lebendige Wahrheit der einzelnen Kreatur, des einsamen Geschöpfes.– Aber wird es verstanden werden? – Ich glaube ja, über den Weg, auf dem Sie dahin führen.“
In einem Nachsatz schreibt Suhrkamp, was Frisch da fordere, dafür sei „Boris Pasternak jetzt eben das lebendige Beispiel“(Peter Suhrkamp an Max Frisch, 30.10.1958), dessen in der Sowjetunion verbotener Roman Doktor Schiwago 1958 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Und eine Woche vor Suhrkamps Brief wird Pasternak der Literaturnobelpreis zugesprochen, den er nach einer ideologischen Hetzkampagne im eigenen Land indes ablehnen muss. Frisch antwortet, es tröste ihn, dass die Rede Suhrkamp „im grossen ganzen zusagt“. Er habe noch „gestrichen, was nur Kenntnis oder Kommentar ist ohne Gefälle zum eigentlichen Thema hin“.(Max Frisch an Peter Suhrkamp, 5.11.1958)
Über die Preisübergabe am 8. November 1958 in Darmstadt lässt sich Frisch nicht aus. Suhrkamp meldet sich brieflich ab, weil ihm sein Gesundheitszustand eine Teilnahme verunmöglicht. Frisch solle aber zuversichtlich sein. Es werde „eine gute und eindrucksvolle Rede“.(Peter Suhrkamp an Max Frisch, 30.10.1958) Frisch bestärkt den Verleger in seinem Entscheid, der Preisübergabe fernzubleiben. Das wäre „Wahnsinn und unnötig“ – „der Rummel lohnt doch keinen einzigen Husten“.(Max Frisch an Peter Suhrkamp, 5.11.1958, Durchschlag)
Auch über die Laudatio von Jurymitglied Rudolf Hagelstange scheint sich Frisch nicht weiter geäußert zu haben. Er dürfte freilich hellhörig geworden sein, als der Kollege das Tagebuch 1946-1949 als Journal der Jahre 1945-1948 vorstellt und auch noch mit Ernst Jüngers Notaten vergleicht, doch Hagelstange findet die Kurve gleich wieder, wenn er lobt, „um wieviel bereichernder und vertiefender sich die größere äußere und innere Freiheit des Neutralen“ ausgewirkt habe.
Hermann Kasack, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, verliest die Preisurkunde. Der Georg-Büchner-Preis gehe an den Schweizer Dichter Max Frisch, „der in seinem epischen und dramatischen Werk die Spannungen im Menschen unserer Zeit aufspürt und nach neuen gültigen Werten suchend ihre Bedeutung mit künstlerischer Wahrhaftigkeit darstellt.“
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckt Frischs Dankrede in der Bundesrepublik ab unter dem Titel „Das Engagement des Schriftstellers heute“, während sie in der Schweiz erstmals zum 20. Jubiläum des Schauspielhauses Zürich erscheint, der Bühne vieler Geflüchteter in der Zeit des Nationalsozialismus. Und zwar unter dem von Frisch zuerst autorisierten Titel „Emigration“, den er dann noch in „Emigranten“ ändert. Er fügt gegenüber Suhrkamp an: „Mir scheint, da passt sie hin“.
Das Echo in der Bundesrepublik ist beachtlich, wesentlich imposanter als die Berichterstattung in der Schweiz. Hans Schwab-Felisch lobt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie verdient die Auszeichnung sei. Er unterstreicht die „Welthaltigkeit des Werks“ von Max Frisch und bringt es auf die Formel: „Frisch ist ein Realist, der die Bedrohungen von außen sieht, sie aber im Innern des Menschen sucht.“
Der begeisterte Journalist W.E. Süskind vernimmt ein „wahrhaft Büchnerisches Manifest“. Er schnappt am abendlichen Empfang des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt ein Streitgespräch auf zwischen einem Schweizer und einem Deutschen. Der Deutsche sagt über Frischs Ansprache, sie sei „ungeheuer kühn“ gewesen – „Ich habe nichts Kühnes daran gefunden“ soll der Schweizer erwidert haben, „ich fand sie für Frischs Verhältnisse eher zahm.“
Hermann Kesten, selber 1933 aus Deutschland geflüchtet, berichtet aus Darmstadt, Frisch habe sich über die Auszeichnung „von Herzen“ gefreut, „obgleich es erst sein dritter Preis im Jahre 1958 war“.(Hermann Kesten: «Darmstadt, am 7. und 8. November 1958», Münchner Merkur, 10.11.1958) Kesten nennt die Rede wie andere Reden, die an diesem Tag in Darmstadt gehalten worden sind, „ausgezeichnet“, „zu Herzen gehend“, „schön“, aber auch „kurios“, er hebt hervor, Frisch habe mit „Humor und Witz und Humanität und Verzweiflung“ gesprochen, aber dennoch geht aus seinem Bericht nicht hervor, was er wirklich von Frischs „Emigranten“-Rede gehalten hat. Obwohl Kesten klarmacht, dass er selbst nicht mehr in seinem alten Vaterland lebt, sondern in Rom, referiert er nur höflich, was Frisch über das Antinationale und Emigrantische und das Gefühl der Unzugehörigkeit sagt, ohne dessen Thesen zu kommentieren, als gingen sie ihn persönlich kaum etwas an. Dabei hätte er mehr darüber zu sagen gehabt als die meisten Anwesenden.
Anderntags wiederholt Frisch die Rede in gekürzter Form auf einer Lesung im Cuvilliés-Theater in München. Der Berichterstatter der Süddeutschen Zeitung hält fest, Frisch habe den aktuellen Typus des Emigranten als „Frontzersetzer“, als der „Nichtidentische“ entworfen. „Das Niemandsland ist für den Autor eine Bastion, die es zu halten gilt, auch um den höchsten Preis – als Republik des flüchtigen Gedankens, Asyl der Unruhe, Hort der offenen Fragen.“
Die Lesung sei „ziemlich exponiert“, meint Frisch im Vorfeld, wohl weil sie in Anwesenheit von Ingeborg Bachmann stattfindet, die sich früh schon angemeldet hat: „In zwei oder drei Monaten geh ich in München zu Deinem Vortrag, und nachher sitzen viele Leute um Dich herum und ich dazwischen, und wir werden einander freundlich ansehen, uns wundern insgeheim über alles.“(Ingeborg Bachmann an Max Frisch, [2.] August [1958], in: Briefwechsel Bachmann/Frisch, S. 28.) Nach der Veranstaltung verbringen sie ein paar Tage bei Ilse Aichinger und Günter Eich in Lenggries/Bayern.
Auch Peter Suhrkamp vernimmt wohlwollende Berichte über die Preisfeier. Das Jurymitglied Hanns W. Eppelsheimer besucht ihn am Krankenbett, einer seiner alten Freunde. 1933 von den Nazis aus dem Amt als Direktor der Landesbibliothek Darmstadt gedrängt. Seit 1946 ist er Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main und Mitbegründer der Deutschen Bibliothek. „Eppels“, dem auch Frisch schon öfter bei Suhrkamp begegnet ist, beginnt ausführlich über die Verleihung des Büchner-Preises zu erzählen und habe, so Suhrkamp, von sich aus betont, dass er Frischs Ansprache sehr gut gefunden habe.
In der DDR dagegen entlarvt man Frischs Büchner-Rede als „Bankrott“, da Frisch nur beim „Allgemein-Menschlichen gelandet sei statt bei den Klassenverhältnissen. Man unterstellt ihm Überheblichkeit, weil er auch von „Dogmen des Ostens“ spricht, nicht bloss von jenen des Westens. Der Osten, so wird er belehrt, führe keine Kreuzzüge und verbreite keine Phrasen zur Kriegsführung. Die „Annexion des revolutionären Dichters“ Büchner durch Frisch sei ein „grober Missbrauch“. Er spreche zwar von kombattanter Resignation, seine Rede sei aber eine „bedingungslose Kapitulation, eine Abdankung“.(Heinz Kamnitzer: Die große Kapitulation, Neue Deutsche Literatur 3 (1959), S. 103-109.)
In Wirklichkeit erweist sich die Büchner-Rede als ein Schlüsselwerk Frischs, weil er darin eine oft verkannte Position zwischen „politischem Engagement“ und Anti-Engagement sucht, ein „individuelles Engagement“, an dem er in den Sechziger- und Siebzigerjahren festhält, als die Literatur sich zum einen radikal weiter politisiert, zum andern auf einen radikalen Subjektivismus zubewegt.
Wir danken dem Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek, Zürich, für die Unterstützung.