Poet des Protests: Erich Fried

Vorspiel 1

Listen

Am 22. Januar 1987 tritt das Präsidium zu seiner ersten Sitzung des Jahres in Darmstadt zusammen. Die Tagesordnung ist umfangreich. Die Entscheidung über die beiden im Frühjahr vergebenen Preise steht an, die „künftige Tagungsabfolge“ soll noch einmal grundsätzlich überdacht werden und der Vorschlag für die Ein­richtung eines Preises für politische Sprache liegt auf dem Tisch. Ein wichtiges Thema sind außerdem die „Dotationen des Voß-, Gundolf-, Freud- und Merck-Preises“ und damit auch ihr darin dokumentiertes Verhältnis zum Büchner-Preis. Schließlich beginnt mit dieser Sitzung die Diskussion über die „Kandidaturen für die Herbst­preise“. Die genannten Themen deuten an, dass die Akademie weiterhin über eine Erweiterung des Themen­spektrums nachdenkt, das sie mit den von ihr bereits vergebenen fünf Preisen besetzt – und dass sie (weiter) darum kämpft, den kulturpolitischen Stellenwert ihrer Preise auch durch eine angemessene Dotierung zu dokumentieren.

Unter Punkt sechs der Tagesordnung werden am Nachmittag die Kandidaturen für die Herbstpreise diskutiert, für den Sigmund-Freud-Preis für wissen­schaftliche Prosa, den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay sowie den Georg-Büchner-Preis. In einer ersten Runde werden Vorschläge gesammelt, schließlich stehen 17 Namen auf der Liste für den Büchner-Preis – und sofort beginnt die Diskussion. Dabei taucht sogleich die Frage auf, ob einzelne Kandidaten besser für den Büchner- oder für den Merck-Preis vorgesehen werden sollten. Das Problem der Abgrenzung zwischen diesen beiden Auszeichnungen begleitet die Jury seit der Einrichtung des Merck-Preises in den 1960er Jahren. Auf den dringenden Appell, die viel zu umfang­reiche Liste müsse jetzt verknappt werden, nennen alle Präsidiumsmitglieder nun ein bis zwei Namen. Das Ergebnis...

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... umfasst jedoch kaum weniger Vorschläge: Horst Bienek, Erich Fried, Sarah Kirsch, Franz Xaver Kroetz, Günter Kunert, Siegfried Lenz, Friederike Mayröcker, Christoph Meckel, Gerhard Meier, Adolf Muschg, Christa Reinig und Friederike Roth. Ein umfangreiches Leseprogramm für die Jury bis zur nächsten, entscheidenden Sitzung.

Anwesenheitsliste des Erweiterten Präsidium, 22.1.1987
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Protokoll (Ausschnitt) der Präsidiumssitzung vom 22.1.1987, (1)
Aus dem Protokoll des Erweiterten Präsidiums am 22.1.1987
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Protokoll (Ausschnitt) der Präsidiumssitzung vom 22.1.1987
Aus dem Protokoll des Erweiterten Präsidiums am 22.1.1987
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Vorspiel 2

„der ‚büchnerischste‘ von allen genannten Namen“

Am 27. April wird die Diskussion über die Herbstpreise fortgesetzt, nun tagt das Präsidium bei den Juryberatungen für den Georg-Büchner-Preis in einer etwas erweiterten Runde, die Vertreter der Stadt Darmstadt und des Landes Hessen kommen hinzu. Sehr schnell wird in den Diskussionen die Forderung deutlich, dass im „Büchner-Gedenkjahr“ auch der Preisträger „büchnerische Qualitäten“ haben müsse.

Wer allerdings als ein „büchnerischer“ Autor gelten könnte, auch wie die Jury mit ihrer Wahl den Preis zwischen „etabliert“ und „avantgardistisch“ positionieren möchte, derartige Fragen durchziehen die Gespräche, die im Protokoll ausführlich nachgezeichnet sind. Schließlich bleiben vier Namen in der engeren Wahl: Erich Fried, Franz Xaver Kroetz, Friederike Mayröcker und Gerhard Meier. In den daraufhin folgenden Probeabstimmungen verwandelt sich die anfängliche Reihen­folge Fried, Meier, Kroetz und Mayröcker im nächsten Schritt in eine mit Kroetz an erster Stelle, die anderen drei liegen gleich­rangig dahinter. Die Wahl scheint also auf Franz Xaver Kroetz zuzulaufen. Um für die Schlussab­stimmung einen Gegenkandidaten für Kroetz zu haben, treten nun noch einmal die anderen drei gegeneinander an – mit dem Resultat, das Fried und Kroetz in die endgültige Ab­stimmung kommen, aus der Erich Fried als Büchner-Preisträger 1987 hervorgeht. Sehr gut verdeutlicht dieser Verlauf, wie beweglich bis zum Schluss derartige Entscheidungsprozesse in einer Jury verlaufen können, gerade dann, wenn es mehrere weitgehend gleichstarke Kandidaten gibt.

Anwesenheitsliste der Jury-Sitzung des Georg-Büchner-Preises, 27.4.1987
In einer parteiübergreifenden Initiative schlugen CDU und SPD 1985 vor, zum 150. Todestag Georg Büchners im Jahr 1987 eine Sonderbriefmarke aufzulegen. Der Antrag wurde jedoch vom Bundespostministerium abgelehnt, stattdessen erschienen Sonderbriefmarken zu Karl May, König Ludwig von Bayern und zum Mainzer Carnevalverein.
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Direkt nach der Jurysitzung, am 28. April, werden die Akademiemitglieder „streng vertraulich“ über die gewählten Herbstpreisträger informiert. Am 30. April schreibt der Generalsekretär Gerhard Dette an Erich Fried und teilt ihm „gewissermaßen offiziell“ mit, dass er von der Akademie zum Büchner-Preisträger 1987 gewählt worden ist. Eine Telefonnotiz vom 22. Mai aus dem Darmstädter Büro hält fest, dass die Nachricht angekommen ist: „Macht die Lesung etc. Essen OB!“

Als am 14. Mai das Präsidium wieder im Rahmen der Frühjahrstagung zusammenkommt, berichtet der Generalsekretär Gerhard Dette, der Akademiepräsident Herbert Heckmann wolle selbst die Laudatio auf Erich Fried halten. Außerdem werde die Preisverleihung nicht, wie von der Akademie zunächst gewünscht, am Sonntag als Matinee stattfinden, sondern am Samstagnachmittag, da der Darmstädter Oberbürgermeister Günther Metzger „den Empfang für die Akademie keinesfalls vor der Preisverleihung ansetzen wolle“. Das Tagungsthema stehe inzwischen auch fest: „Im Namen Georg Büchners: Das Los des Literaturpreises“ (siehe auch Chronik 1987)

Erich Fried während der Lesung
Lesung mit Erich Fried in der Orangerie Darmstadt
Foto: Peter Hönig
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Die Lesung

Am Vorabend der Preisverleihung, am 16. Oktober, findet in der Orangerie die Lesung des Georg-Büchner-Preis­trägers statt. Der Andrang ist überwälti­gend, der Saal „über­füllt“, wie der Tagungs­bericht der Akademie festhält.

Erich Fried hat für sein fast anderthalbstündiges Programm Gedichte und Prosa ausgewählt, sehr unterschiedliche Texte, durch die ganz verschiedene Seiten seines Werks erkennbar werden. Fried beginnt seine Lesung mit drei Gedichten für Hilde Domin, die, wie viele andere Akademiemitglieder, an diesem Abend im Publikum sitzt.

In ihrem Bericht für das Darmstädter Echo schreibt Margarete Kubelka begeistert, diese Gedichte seien „reine Poesie, wie sie heute nur noch selten zu finden ist“.

Zeitungsbericht über die Lesung Erich Frieds, Darmstädter Echo 19.10.1987
Darmstädter Echo, 19. Oktober 1987
© VRM GmbH & Co. KG, Redaktionsarchiv/Dokumentation
Büchner-Preis-Lesung mit Erich Fried in der Darmstädter Orangerie am 16.10.1987
Aus: Büchner-Preis für Erich Fried. Ein Bericht von Dietmar N. Schmidt, HR3, 18.10.1987
© Hessischer Rundfunk

Am Tag der Preisverleihung

Am Vormittag des 17. Oktober trifft sich Erich Fried mit Dietmar N. Schmidt für ein längeres Interview, das dann im Hessischen Rundfunk gesendet werden wird. Die Fragen kreisen um die bevorstehende Ehrung und die Bedeutung des Namenspatrons Georg Büchner für den Preisträger, die Unterhaltung wird aber schnell grundsätzlicher. Das Gespräch lässt auch bereits einige Motive der Dankrede erkennen, die Erich Fried später bei der Preisverleihung im Hessischen Staatstheater halten wird – als die entschieden kritische Bilanz eines todkranken Menschen. Das Gespräch endet mit Erich Frieds Antwort auf die Frage, was er sich für sich selbst wünsche: „keine Schmerzen und Arbeitsfähigkeit“. In seiner Rede im Theater wird er dann sagen: „Ich Alter sehe mich selbst und die alten und alternden Schriftsteller, die hier jedes Jahr den Schatten dieses jungen Menschen beschwören, der nie mehr alt wird, von Büchners Schatten in den Schatten gestellt. Weil dieser Schatten hier ist, in dessen Namen wir uns versammeln, vielleicht auch zur Sühne dafür, daß man ihn weggetrieben hat, den Jungen aus Darmstadt, in die Fremde und in die Einsamkeit und in seine Todeskrankheit […] – und vielleicht auch, weil wahrscheinlich auch ich in nicht allzuferner Zukunft ein Schatten sein werde …“

Erich Fried im Interview mit Dietmar N. Schmidt am 17.10.1987
Aus: Büchner-Preis für Erich Fried. Ein Bericht von Dietmar N. Schmidt, HR3, 18.10.1987
© Hessischer Rundfunk

Die Würdigung

Die Laudatio auf Erich Fried hält der Akademiepräsident Herbert Heckmann. Er beginnt seine Rede mit der Frage nach dem Namen, dem richtigen Namen: „Der Name des diesjährigen Büchnerpreis­trägers ist ERICH FRIED – und nicht der politische Lyriker, nicht der Agitator, nicht der Epigrammatiker, nicht der Menschen­freund, nicht der Engagierte, nicht der Zornige, nicht der Traurige, nicht der Liebende, nicht der Übersetzer Shakespeares. Erich Fried ist all das, aber er ist es unverwechselbar als Erich Fried, der für das in Deutschland so beliebte Schubfachdenken hysterischer Systeme nicht das geringste übrig hat. Er besteht auf der Unverwechselbarkeit der Namen.“ Denn das, so Heckmann, sei Aufgabe der Literatur, die „den Menschen und den Dingen den Namen zurückgibt, die diese im Furioso der sprachregelnden Lüge verloren haben“. Der Zweifel sei Frieds Muse, mit jedem Gedicht eröffne er einen aufklärerischen Dialog und sei dabei ein „Genie im Auffinden öffentlicher Fettnäpfchen“.

Erich Fried und Akademiepräsident Herbert Heckmann, bei der Urkundenübergabe. Foto: Peter Hönig
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Laudatio von Herbert Heckmann, Frankfurter Rundschau 19.10.1987
Laudatio von Herbert Heckmann auf Erich Fried (Ausschnitt)
Dauer: 00:04:41
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Herbert Heckmann: „Die richtigen Namen. Laudatio auf Erich Fried“, Frankfurter Rundschau, 19. Oktober 1987
© Frankfurter Rundschau GmbH

Die Kontroverse

*Text: Tilman von Brand

Reinhart Hoffmeister sollte sich irren. Erich Fried, der ein Jahr vor seinem Tod den Georg-Büchner-Preis erhielt, entfachte am Abend eine neuerliche große Kontroverse in seinem Leben. Für den bedeutendsten deutschen Literaturpreis wiederum sollte es nicht weniger als ein sensationeller Eklat werden, der während der Verleihung ausgelöst wurde. Was aber genau im Zentrum des Streits stand, was also von wem kritisiert oder skandalisiert wurde, ist gar nicht so einfach zu bestimmen. Je nach Sichtweise wird zumindest der Auslöser dabei entweder in der kritischen Rede Frieds oder der Reaktion des Darmstädter Oberbürgermeisters Günther Metzger gesehen. Aber die Dinge sind kompliziert: Die Zutaten sind ein persönlicher Streit zwischen Metzger und Fried um die Vertreibung von Roma aus Darmstadt, die allgemeine Frage, ob man Georg Büchner in die Nähe der RAF bringen darf und wie kritisch ein Dichter sein darf, wenn er einen aus öffentlicher Hand bezahlten Preis entgegennimmt.

„Kein neuer Streit wird entflammen, wenn Erich Fried heute in Darmstadt der Georg-Büchner-Preis überreicht wird. Die politische Öffentlichkeit der Bundesrepublik hat längst ihren Frieden mit dem streitbaren Dichter geschlossen, die Verleihung des höchsten deutschen Literaturpreises mag auch ein Zeichen dafür sein.“
Zitat: Reinhart Hoffmeister, Saarbrücker Zeitung vom 17.10.1987
Erich Fried vwährend seiner Dankrede
Erich Fried verliest seine Dankrede zum Büchner-Preis.
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Die Rede

*Text: Tilman von Brand

„Es ist wahrscheinlich, daß dieser Zwanzigjährige sich in unserer Zeit zur ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe geschlagen hätte – wenn auch keineswegs, ob er sich nicht wieder abgewendet hätte – und daß er heute im Gefängnis säße oder vor genau 10 Jahren am 17. Oktober 1977, an einer ähnlichen Art Selbstmord gestorben wäre, wie es Baader, Ensslin und Raspe an diesem Tag widerfahren ist – und 17 Monate zuvor Ulrike Meinhof! Falls Büchner nicht schon bei der Verhaftung polizeilich erschossen worden wäre, natürlich nur in Notwehr oder in putativer Notwehr!“

„Darmstadt ist roma-rein. Das Wort ist dem Wort juden-rein nachgebildet. Obwohl solche Vergleiche immer hinken. Zum Beispiel: Während Juden nach 1945 immerhin Wiedergutmachung bekamen, erhielten die Angehörigen von ebenfalls vergasten Roma nichts dergleichen.“

Diese zwei Textstellen sind es vor allem, die später Anstoß erregen werden, auch wenn Fried vom Asylrecht über die „Ausbeutung der ‚3. Welt‘“ bis hin zur Unterstützung totalitärer Regimes zahlreiche „Schändlichkeiten von der Art, die Büchner bis aufs Blut gepeinigt haben“ in der Bundesrepublik benennt. Ursprünglich hatte Erich Fried wohl nicht die Absicht gehabt, einen Skandal zu provozieren, vielmehr wollte er sogar eine versöhnliche Rede halten und sah der Preisverleihung gelassen entgegen. Als er jedoch einige Tage vor der Verleihung auf die Vertreibung von Roma aus Darmstadt hingewiesen wird, entschließt er sich, seine Ansprache zum Anlass zu nehmen, gegen das Unrecht zu protestieren. Auch wenn das Hamburger Abendblatt vor der Preisverleihung zu berichten weiß, dass Fried „Enfant Terrible“ bleiben wolle, scheint es selbst einen Tag vor der Ver­leihung, als ahne dieser nicht, welche Folgen seine Rede für ihn haben würde. Der Veranstaltung selbst steht er aber durchaus skeptisch gegenüber, wie aus einem Gespräch mit Heiner Müller deutlich wird: „[...] auch die Rede lohnt sich nicht, die kann man ohnehin lesen. [...] Nichts könnte mich veranlassen, zu dem Mist zu kommen, wenn ich nicht selber müßte.“

Manuskript Erich Frieds mit Vorarbeiten zur Rede
Erich Fried: Aus den Vorarbeiten zur Rede
© Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Nachlass Erich Fried

Bei genauerer Betrachtung des Redemanuskripts lässt sich jedoch zumindest erkennen, dass Erich Fried seinen Auftritt nicht so locker genommen hat, wie es nach dieser Aussage den Anschein haben könnte. Zwar wirkt der elf DIN-A-4-Seiten umfassende Text auf den ersten Blick in der Tat eher leichtfertig niedergeschrieben: Bei dem Papier handelt es sich um maschinen­schriftlich beschriebene Rückseiten von Werbe- und Schmierzetteln oder auch um hauchdünnes Durchschlagspapier. Nicht nur sind einzelne Textstellen überklebt, es finden sich auch vielfache maschinen- wie handschriftliche Verbesserungen. Doch das unsaubere Äußere – nicht untypisch für Friedsche Manuskripte – belegt vielmehr die intensive Beschäftigung mit der Rede: Es lassen sich wenigstens vier unterschiedliche Stifte ausmachen, so dass feststeht, dass Fried seinen Text mindestens viermal unabhängig voneinander überarbeitet hat. Wahrscheinlich ist jedoch, dass er den Text noch häufiger korrigierte. Bei den vorgenommenen Veränderungen durch Fried ergibt sich jedoch kein einheitliches Bild: In keiner Weise ist zu erkennen, dass er darum bemüht gewesen war, seine Rede generell provokativer zu gestalten oder zu harmonisieren.

Vergleicht man die Vorarbeiten und Text­fassungen, dann lässt sich sein immer wieder neu ansetzender Arbeitsprozess nachverfolgen. Dies gilt gerade auch für die nach seinem öffentlichen Vortrag in Darmstadt in den Medien skandalisierten Passage, an der er bis zuletzt arbeitete. In einer frühen Fassung hieß es zunächst, es sei „klar“, dass Büchner sich heute der RAF angeschlossen hätte, dort bereits hand­schriftlich abgemildert zum „ziemlich klar“. Später wird dann daraus: „Es ist ziemlich wahrschein­lich“, final noch vager gehalten „wahrscheinlich“. Und auch eine weitere Relativierung nimmt er vor, deren Agrammatikalität – der Satz folgte ursprünglich offenbar der „Es ist klar“-Fassung – in späteren Drucken still­schweigend korrigiert wird: „wenn auch keineswegs, ob er sich nicht wieder abgewendet hätte!“ All diese Stufen sind auch in der letzten Fassung seiner Rede dokumentiert und demonstrieren, welch großes Gewicht Fried selbst der Aussage beigemessen hat.
Fried dürfte zumindest geahnt haben, dass seine Mutmaßung öffentliche Wirkung entfalten würde…

Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Erich Fried hält seine Dankrede zum Büchner-Preis im Staatstheater Darmstadt, 17.10.1987
© Hessischer Rundfunk

Der Eklat

*Text: Tilman von Brand

Fried erntet viel Beifall während seiner Rede. Unmut äußert unmittelbar im Darmstädter Staatstheater, wo die Preisübergabe stattfindet, nur Hilde Domin öffentlich:

Die Lyrikerin, langjähriges Mitglied der Akademie, steigt nach Frieds Rede spontan auf die Bühne und hält dem Dichter entgegen, dass er ein großer Dichter sei und den Büchner-Preis deshalb zu Recht bekommen habe. Die Bundesre­publik sei aber nicht, wie seine Rede vermuten lasse, der schwärzeste Punkt des Globus. Das werde doch dadurch be­wiesen, dass er diese Rede, in der er Wahres und Falsches gesagt habe, hier frei habe halten können. Ein Teil des Publi­kums reagiert mit „Buh“-Rufen, einige wenige applaudieren. Erich Fried küsst der 75-jährigen Kollegin die Hand.

Hilde Domin nach der Rede Erich Frieds
Hilde Domin auf der Bühne nach der Rede von Erich Fried
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Zum Eklat kommt es erst nach der Preisverleihung während des von Oberbürgermeister Günther Metzger im Namen der Stadt gegebenen Banketts in der Darmstädter Orangerie, zu dem die Mitglieder der Akademie sowie weitere Ehrengäste geladen sind. In einer kurzen Ansprache wirft Metzger dem Preisträger „doppelte Moral“ vor, habe er doch einen aus öffentlicher Hand finanzierten Preis angenommen, obwohl er die öffentlichen Einrichtungen der Bundesrepublik „so grenzenlos“ angreife. Es sei eine „schlimme Rede“ gewesen, urteilt Metzger, der übrigens auch das Kulturdezernat der Stadt leitet, weiter, um schließlich seine persönliche Ansicht vom richtigen Maß an Kritik kundzutun: „Sicher kann man über die Bundesrepublik Deutschland diskutieren, man kann anderer Meinung sein. Ich selbst gehöre zu denjenigen, die Mißverhältnisse in der Bundesrepublik – die gibt es da auch – immer wieder kritisieren, aber es kann auch kein Zweifel daran bestehen, und auch das möchte ich deutlich sagen, daß die Bundesrepublik der freiheitlichste Staat ist, den wir je hatten.“

Die Auseinandersetzung zwischen Erich Fried und Günther Metzger vor der Orangerie Darmstadt, 17.10.1987
© Hessischer Rundfunk

Erich Fried hatte schon vor diesen letzten Worten des Bürgermeisters mit etwa 40 Personen – dem Großteil der Gäste – aus Protest den Saal verlassen. Erst nachdem Akademiepräsident und Laudator Herbert Heckmann auf beiden Seiten vermittelt und Metzger dazu bewegt, sich bei Fried zu entschuldigen und den Vorwurf der doppelten Moral zurückzunehmen, lässt sich der Dichter dazu bewegen, in die Orangerie zurückzukehren, wo er mit Beifall empfangen wird.

Die Entschuldigung Metzgers erfolgt jedoch offenkundig nur um der Form willen und damit die Situation nicht vollends eskaliert. Denn wenige Wochen nach der Preisverleihung steigert der Oberbürgermeister seine Vorwürfe gegen Fried sogar noch. So schreibt Metzger in einem Antwort­schreiben auf einen Brief des Ehepaars Sabine und Kurt Groene­wold, in denen diese sich über sein Verhalten beklagt hatten: „Ich bleibe dabei: es war eine schlimme Rede“.

Erich Fried verlässt den Empfang in der Orangerie
Erich Fried verlässt während der Rede von Günther Metzger die Orangerie. Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

„Sie war in zahlreichen Passagen unsachlich, enthielt Halbwahrheiten, Schmähungen und Verleumdungen, war angehäuft mit infamen Vergleichen und Assoziationen.“ So frage er sich, wo denn „gewaltlose Demonstranten mißhandelt oder eingesperrt“ würden oder ein Mensch „bei der Verhaftung polizeilich erschossen“ worden sei, wie Fried in seiner Rede behauptet hatte. Ferner sei dessen Vergleich von der Behandlung der Roma in Darmstadt mit den Juden im Dritten Reich ein „ungeheuerlicher Vorwurf“. Folglich müsse auch die „Frage erlaubt sein, warum er dann in diesem ‚finsteren Staat‘ diesen Preis annimmt und sich feiern läßt“.

Roma in Darmstadt

*Text: Tilman von Brand

Die Kritik an der Behandlung der Roma war ein wunder Punkt: Während Metzgers Vorgänger als Bürgermeister von Darmstadt, Heinz Winfried Sabais, 1979 noch geäußert hatte „Niemals soll bei uns auch nur ein Zigeuner vor die Stadttore gewiesen werden“ und dafür gesorgt hatte, dass von der Stadtverwaltung Unterkünfte zur Verfügung gestellt wurden, korrigiert Metzger diesen Kurs schnell und lässt 1983 ein von Roma bewohntes Wohnhaus abreißen, dessen Bewohnerinnen und Bewohner lediglich im Urlaub waren. 1984 ordnet er dann die Ausweisung einer Familie an, da sie „ihr Gastrecht miß­braucht“ habe. Diese Zwangsaktion führt dazu, dass mehrere Familien Darmstadt verlassen, worauf Metzger mit der Ankündigung, niemand dürfe wieder­kommen, reagiert.

Brief von Erich Fried an Günter Metzger, 25.8.1983
Brief von Erich Fried an Günther Metzger, 25.8.1983
© Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek

Er sollte sich irren: Das Darmstädter Verwaltungsgericht erklärte nicht nur die Ausweisung für rechtswidrig, vielmehr ordnete es an, dass die Stadt die Rückholungskosten zu tragen habe. Bereits damals hatte Fried von den Ereignissen in Darmstadt Kenntnis erhalten und sich am 25. August 1983 in einem Schreiben an Metzger gewandt und dessen Politik gegenüber Roma-Familien kritisiert.

Erich Fried vs. Günther Metzger

*Text: Tilman von Brand

Die Auseinandersetzung mit Oberbürgermeister Günther Metzger ist deshalb vor allem auch ein persönlicher Streit. Fried greift Metzgers Politik den Roma gegenüber mit scharfen Worten an; eine Analogie zwischen der Judenverfolgung und der Ausweisung der Roma herzustellen, ist ein großer Vorwurf, der nur bedingt aufrechtzuerhalten ist. So erweckt der von Fried zum Vergleich herangezogene Begriff „judenrein“ zwangsläufig Assoziationen zum Holocaust. Gegen die Roma in Darmstadt wurde hingegen keine körperliche Gewalt angewandt. Wohl aber waren sie psychisch unter Druck gesetzt worden, und aufgrund der Anfeindungen, die ihnen zuteilwurden, mussten sie Angst um ihr Leben haben, so dass schließlich mehrere Familien vermeintlich freiwillig die Stadt verlassen haben. Diesen Druck meint Erich Fried, der als 17jähriger aus Angst um die eigene Existenz selbst fliehen musste, wenn er sagt, die Stadt sei jetzt „roma-rein“. Das Oberlandesgericht Frankfurt bestätigt indirekt Fried in dessen Vehemenz, wenn es in anderem Zusammenhang urteilt, es sei rechtens, öffentlich zu verbreiten, Metzger habe „das seit 1945 schlimmste Beispiel für Rassismus geboten“ und „den Abriß des ehemals von Roma-Familien bewohnten Hauses […] mit genau den gleichen Vorwänden gerechtfertigt, mit denen in den dreißiger Jahren Juden und Zigeuner zu Volksschädlingen abgestempelt worden seien“. Dies verschweigt der Oberbürgermeister jedoch in seinen Vorwürfen Fried gegenüber, so dass der Eindruck entsteht, Metzger ginge es allein um die anderen Dinge. Während der Vorwurf, eine „schlimme Rede“ gehalten zu haben, noch in die Kategorie allgemeiner Kritik einzuordnen ist, wiegt die Beschuldigung der Doppelmoral schon schwerer.

Erich Fried und Günther Metzger in der Orangerie an einem Tisch
Erich Fried und Günther Metzger beim Empfang in der Orangerie
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Nachspiel 1

Die öffentliche Debatte

*Text: Tilman von Brand

Während Erich Fried sich mit seiner Rede bei der Preisverleihung treu bleibt, reagieren einige Zeitungen eher unkonventionell: In der Welt, wo Frieds Gedichte zuvor noch als „Politpornographie“ bezeichnet worden waren, wird der Dichter nun fast schon überschwänglich gelobt, wohingegen ein Autor der Frankfurter Rundschau, der Zeitung, welcher man wohl die meisten positiven Artikel über Fried überhaupt entnehmen konnte, anlässlich der Rede gelangweilt feststellt: „Auch aufrichtiges Bekennertum kann aufdringlich werden.“ Das Presseecho insgesamt ist immens und fällt vor allem durch radikale Vereinfachungen auf: „Büchner wäre heute Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe“, „Georg Büchner hätte sich heute zu Baader-Meinhof geschlagen“ oder auch „Heute wäre Georg Büchner Baader-Meinhof-Mitglied“ lauten fälschlich als Zitate gekennzeichnete Überschriften.

Heute wäre Georg Büchner Baader-Meinhof-Mitglied, Überschrift in Abendpost-Nachtausgabe, 19.10.1987
Abendpost-Nachtausgabe, 19.10.1987

Marcel Reich-Ranicki, der vermeintlich versöhnlich mit den Worten beginnt, sein alter Freund Erich Fried habe abermals gesiegt, sieht immer wieder „dieselbe Mischung aus ergreifender Naivität, entwaffnender Weltfremdheit und pueriler Selbstgefälligkeit“, die den Kritiker zu polemischer Antizipation dessen veranlasst, was von Fried zu erwarten sei: „Denn wenn es ihm sein Gesundheitszustand nur erlaubt, dann wird er sich bemühen, seine Darmstädter Rede mit seinem nächsten Auftritt zu übertrumpfen: Er wird womöglich die Gründung einer Andreas-Baader-Akademie in Stuttgart oder die Seligsprechung Ulrike Meinhofs oder die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Gorbatschow verlangen.“ So abwegig die Vorstellung damals gewesen sein mag, Gorbatschow erhielt diesen Preis zwar nicht, dafür wenige Jahre später den Friedensnobelpreis.

Der große, von Reich-Ranicki bewunderte, Germanist Hans Mayer, kam anlässlich der Trauerfeier für Erich Fried 1988 zu einer anderen Wertung der Rede:

„Erich hat bisweilen, wenn er polemisierte, unrecht gehabt, weil er falschen Informationen oder der Suada irgendwelcher Fundamentalisten zu gläubig gefolgt war. Er konnte weder gut lügen, noch mißtrauisch abwägen. Allein mit seiner Büchner-Rede war er durchaus im Recht. Fried hat seine Freunde niemals verleugnet. Auch dort nicht, wo er mißbilligte. Nicht Rudi Dutschke, nicht Ulrike Meinhof. [...] Der Büchnerpreisträger Fried sah ihn [Büchner] nicht allein bei den Achtundsechzigern, sondern auch an der Seite seiner Freunde Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof. Er sah ihn nicht, ausdrücklich nicht!, an der Seite von Mördern und Bombenwerfern. Leise sagte er […], daß Büchner sich in einem solchen Augenblick abgewendet hätte von den bisherigen Freunden. Läßt man solches Denken des Anachronismus überhaupt zu, so wird man in Büchners Lebenszeugnissen und Werken nichts finden, was dieser Hypothese widerspricht.“

Nachspiel 2

„Ein klares Wort“

Das Echo auf die Rede des Büchner-Preisträgers ist nicht nur in der Presse geteilt, auch die Reaktionen des Publi­kums sind unterschiedlich – und die Auseinandersetzungen des Verleihungs­abends wirken fort. In Darmstadt treffen unterschiedlichste Zeugnisse der Empörung ein, von Morddrohungen gegenüber Erich Fried über offene Kritik an der Preisentscheidung der Akademie bis zu Signalen der Unterstützung. Außerdem entwickeln sich öffentliche Briefwechsel über die unterschiedliche Einschätzung des „Eklats“.

Umschlag eines Briefes an Fried. Absender "Jupp Saubermann"
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Ein Tag nach der Preisverleihung am 17. Oktober übergeben Sabine und Kurt Groenewold der Presse einen offenen Brief an den Darmstädter Oberbürgermeister Günther Metzger, eine Kopie geht an Herbert Heckmann. Darin begründen sie noch einmal, warum sie bei dem vom Oberbürgermeister gegebenen Empfang nach der Preisverleihung „aus Protest gegen Ihre Begrüßung des Büchner-Preisträgers Erich Fried den Saal verlassen haben“. Erich Fried habe – trotz alledem – schließlich den Saal wieder betreten „um des lieben Friedens willen“. Der Brief schließt: „Daß viele, die mit ihm feiern wollten, das nicht konnten, auch manch Akademiemitglied nicht, könnte und müßte Ihnen etwas über das Verhältnis der Deutschen nicht nur zu ihrer Obrigkeit, sondern auch zu ihren Dichtern sagen.“

Am 30. November antwortet Metzger den beiden in einem ausführlichen Schreiben. Selbstverständlich habe jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Dies gelte für den Büchner-Preisträger ebenso wie auch für ihn, „selbst dann, wenn er auf die Rede eines Büchnerpreisträgers antwortet“. Er habe es als seine Pflicht angesehen, als Oberbürgermeister der gastgebenden Stadt und als Repräsentant der Bürgerschaft ein „klares Wort zu dieser schlimmen Rede zu sagen“.

Günther Metzger und Erich Fried im Streitgespräch
Foto: Peter Hönig
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Die „Schmähungen und Verleumdungen Frieds gegenüber der Bundesrepublik Deutschland konnten und durften nicht unwidersprochen hingenommen werden“. Und direkt an das Ehepaar Groenewold adressiert Metzger den Vorwurf, es sei empörend, dass ein „Teil der Intellektuellen, zu denen Sie offensichtlich auch gehören, dieses Recht dann nicht mehr gelten lassen wollen und ausfällig werden, wenn die geäußerte Meinung nicht mehr den eigenen Vorstellungen entspricht.“ (Kaukoreit, 61f.) Sabine und Kurt Groenewold haben diese Antwort von Günther Metzger nicht für sich behalten und an Erich Fried weitergeleitet, der die Vorwürfe Metzgers ausführlich kommentiert – Dokumente eines Streitgesprächs, das so nie zustande kam.

Zentrale Punkte der Auseinandersetzung, die in diesem Briefwechsel erkennbar werden, hatten sich bereits beim Empfang abgezeichnet. In den Streitgesprächen vor der Orangerie, nachdem Erich Fried den Saal verlassen hatte, war beispielsweise das Akademiemitglied Ivan Nagel sehr deutlich geworden. Jenseits aller möglichen Differenzen in der Sache stehe, nachdem Metzger Fried zur Rückgabe des Preises aufgefordert habe, die Autonomie der über den Preis entscheidenden Akademie in Frage und damit das Verhältnis von Kunst und Politik.

Hans Altenhein, der Verleger des Luchterhand Verlags, wiederholt diese Kritik kurz darauf noch einmal in einem Brief an den Oberbürgermeister. Mit einem ähnlichen Eindruck, hier werde die Freiheit der Kunst verhandelt, hatte auch Jürgen Diesner in seinem Bericht im Darmstädter Echo vom 19.10. auf den Konflikt geblickt. Am 7. November nimmt Günther Metzger auch hierzu ausführlich Stellung.

Mitglieder der Akademie diskutieren über den Eklat
Mitglieder der Akademie diskutieren über den Eklat. Im Bild vorne Lea Ritter-Santini (li. ) und Reinhard Baumgart (Mitte)
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Mitglieder der Akademie diskutieren über die Situation in der Orangerie
Weitere Diskussionen zwischen Ludwig Metzger, Hans Martin Gauger und Klaus Wagenbach (v.l.)
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Nachspiel 3

„Ja, ich würde den Preis wieder annehmen“

Mitte November 1987 reist Erich Fried erneut nach Darmstadt, für eine Diskussion im Georg-Büchner-Buchladen. Auf die gleich zu Beginn an ihn gestellte Frage, ob er den Preis „nach diesen ganzen Verleumdungen und Ereignissen wieder annehmen“ würde, antwortet Fried: „Ja, ich würde den Preis wieder annehmen.“ Der gesamte Gesprächsverlauf ist in der 1988 erschienenen Publikation des Verlags der Georg Büchner Buchhandlung festgehalten, und so lässt sich auch nachverfolgen, wie Erich Fried kurz nach der Preisverleihung den am Abend eskalierten Konflikt bewertet. Für seine Haltung sind diese Aussagen so aufschlussreich, dass hier ein etwas längerer Ausschnitt zitiert wird:

„Den Preis annehmen, prinzipiell ja, weil ich das Argument des Darmstädter Oberbür­germeisters Günther Metzger nicht nur irrig, sondern auch schäbig finde. Vielleicht ist er zu dieser schäbigen und gehässigen Formulierung dadurch verleitet worden, das muß man als mildernden Umstand bedenken, daß er gerade im Begriff war, an dem Tag Hepatitis A zu kriegen. […] Man müßte ihn da anhören, ober das nochmal so sagen würde oder nicht; den kann man nicht gleich zum absoluten Todfeind stempeln.

Zeitungsartikel Dorothee Kraus, Darmstädter Echo, 17.11.1987
© VRM GmbH & Co. KG, Redaktionsarchiv/Dokumentation

Aber was er gesagt, so wie er es gesagt hat, war schäbig, denn die Finanzierung des Preises durch den Staat, durch das Land Hessen und durch die Stadt Darmstadt, bedeutet nicht, daß der Preisträger finanziert wird, sondern, daß die Akademie finanziert wird; und die Akademie bestimmt eine unabhängige Jury und so weiter und so weiter. […] Man soll also nicht den Geldgebern, wenn sie sich schon gezwungen sehen, unabhängige Institutionen zu schaffen, das Zensurrecht nachträglich wieder einräumen. Der Darmstädter Oberbürgermeister Metzger hat sich da geirrt, wie er das gesagt hat, drum habe ich Adieu gesagt […] und habe den Saal verlassen. Das war’s.“ (28ff.)

Bei aller entschiedenen Kritik an Günther Metzger, Erich Fried insistiert hier darauf, in politischen Auseinandersetzungen auch dem Gegner mit Respekt und Verständnis zu begegnen – seine immer wieder in unter­schiedlichen Zusammenhängen betonte Maxime ist die „Feindesliebe“. Sehr klar benennt er auch einen Kern des Konflikts, der sich an der Frage entzündet, ob er als Kritiker bundesdeutscher Verhältnisse den mit öffent­lichen Mitteln finanzierten Preis hätte annehmen dürfen: es geht um das Verhältnis zwischen Kunst und Staat, bzw. um die Autonomie der Kunst und ihrer Institutionen.

Es geht um das Verhältnis zwischen Kunst und Staat, bzw. um die Autonomie der Kunst und ihrer Institutionen.

Nachspiel 4

„die Dinge in der Jury künftig nicht mehr so laufen lassen“

Fünf Monate nach der Preisverleihung, am 17. März 1988, tritt der Geschäftsführende Ausschuss des Kuratoriums der Akademie zusammen. Er ist das Gremium, in dem ein kleiner Kreis von Vertretern der öffentlichen Geldgeber sowie private Förderer die Akademie in ihrer Arbeit begleiten und vor allem in Haushaltsangelegenheiten beraten. Unter Punkt 4 der Tagesordnung, der eigentlich für das Gespräch über die „Spendensituation“ gedacht ist, entwickelt sich eine Diskussion über die Preisverleihung im vergangenen Herbst. Ausgelöst wird sie durch die Befürchtung des Darmstädter Oberbürgermeisters Günther Metzger, der Vorsitzender des Kuratoriums ist, „daß in diesem Jahr das Spendenaufkommen aufgrund der Ereignisse im Zusammenhang der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Erich Fried geringer ausfallen könnte“. Es gebe bereits Briefe von Kuratoriumsmitgliedern, die ihre Mitarbeit in Frage stellten. Er wolle daher noch einmal auf die damaligen Vorgänge zurückkommen, der „Eklat sei“ von der angereisten Anhängerschaft Frieds „inszeniert gewesen“. Und er folgert: „Er, Metzger, sei fest entschlossen, so etwas künftig zu verhindern, was auch bedeute, daß man ‚die Dinge in der Jury künftig nicht mehr so laufen lassen‘ könne, wie sie offenbar gelaufen seien.“ Die folgende Diskussion ist aus mehreren Gründen aufschlussreich, dokumentiert sie doch nicht nur die unterschiedliche Bereitschaft „Anstößiges“ auch einmal „auszuhalten“, im Kern wird an dieser Stelle die Autonomie der Akademie und der Preisjury verhandelt. Das Protokoll hält dies fest.

Der Druck, der durch die im März im Kreis der öffentlichen und privaten Geldgeber der Akademie erneut sich verdichtende Diskussion über den Büchner-Preis an Erich Fried entstanden ist, wird noch verstärkt durch Pressereaktionen auf die Bekanntgabe des Büchner-Preisträgers 1988. Der Akademiepräsident Herbert Heckmann sucht daher im Vorfeld der nächsten Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses den Kontakt zu Fried und bittet diesen um erklärende Worte. Am 25. August 1988 schreibt Fried an den lieben Herbert, es eile ihn, „ein törichtes und uninformiertes Gerücht zu beantworten“, dass er „Theorie und Praxis der soge­nannten RAF“ unterstütze. Wer seine Texte und Reden lese, seine literarischen Arbeiten kenne, der wisse, „daß ich unter allen Umständen gegen Mord bin, auch gegen Todesstrafe. Bekanntlich auch gegen Todesstrafe für Nazikriegsver­brecher, die meine halbe Familie vergast haben. Und dann soll ich für politischen Mord sein!“ Er sei gerne dazu bereit, jeden Vorwurf „sachlich und unter Hinweis auf Beweismaterial“ zu beantworten.

Brief Erich Fried an Herbert Heckmann, 25.8.1988
Brief von Erich Fried an Herbert Heckmann, 25.8.1988
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Herbert Heckmann verliest diesen Brief in der nächsten Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses, der für die „Stellungnahme zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1987“ einen eigenen Tagesordnungspunkt reserviert hat. Die Folgen des „Eklats“ im Herbst 1987 vermischen sich in der Diskussion mit der öffentlichen Kritik von Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an der Wahl von Albert Drach zum Büchner-Preisträger 1988. In der ‚Causa Fried‘ plädiert Heckmann noch einmal entschieden für Toleranz, „die auch zwischen der Wirtschaft, welche dankenswerterweise Geld zur Verfügung stelle, und der Literatur geübt werden müsse. Man müsse auch das Gemeinschaftliche sehen und dürfe nicht gegeneinander arbeiten. Um dies zu erleichtern, habe er den Brief von Erich Fried vorgelesen, der in Kopie den Mitgliedern des Ausschusses übergeben wird.“

Kurt Werner, eines der als Wirtschaftsvertreter ins Kuratorium berufenen Mitglieder, meint daraufhin, man könne mit dem verlesenen Brief leben, er halte es für „ganz schlecht“, „wenn Jury-Entscheidungen zum Anlass würden, Spendenmittel nicht mehr zur Verfügung zu stellen“, „sozusagen über das Geld Einfluß“ zu nehmen. Die Diskussion endet mit dem Appell, das Kuratorium solle sich hinter die Akademie stellen, und seine Mitglieder, statt ihr Amt niederzulegen, wie einige dies vorhätten, besser „wie es ihre Aufgabe sei, der Akademie […] helfen“.

Poet des Protests

Die Kontroverse um die Verleihung des Büchner-Preises fügt sich in Erich Frieds ganz persönliche Ästhetik des Widerstands, ist konsequente Folge eines poetischen Selbstverständnisses, das auf dem bereits im Jugendalter formulierten Ziel fußt, deutscher Dichter sein zu wollen, der gegen jede Form von Unrecht und Entfremdung anschreibt.

Tilman von Brand ordnet die Darmstädter Ereignisse noch einmal in eine lange Reihe von Auseinandersetzungen ein, von denen das literarische und politische Engagement Erich Frieds begleitet worden sind (siehe folgendes Audio-Feature).

Erich Fried nach der Lesung in der Orangerie, 16.10.1987
Tilman von Brand über Erich Fried
Dauer: 00:05:35 Minuten
© Tilman von Brand | Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Audio: Tilman von Brand über Erich Fried
Foto: Peter Hönig © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Wir danken dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien für die großartige Unterstützung.

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Einige weiterführende Literatur, auf die sich diese Story stützt:

Judith S. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals, Berlin (Walter de Gruyter) 2006

Tilman von Brand: Öffentliche Kontroversen um Erich Fried. Berlin (wvb Wissenschaftlicher Verlag Berlin) 2003

Tilman von Brand: Poet des Protestes: Erich Fried. In: Clemens Kammler/Markus Engelns/Ulrike Preußer (Hg.): Achtundsechzig. Beiträge zu Literatur und Zeitgeschichte. Duisburg (Universitätsverlag Rhein-Ruhr), S. 69-87

Erich Fried. Von der Nachfolge dieses jungen Menschen der nie mehr alt wird, mit Beiträgen von Herbert Heckmann und Volker Kaukoreit, Darmstadt (Verlag der Georg Büchner Buchhandlung) 1988

Einer singt aus der Zeit und gegen die Zeit. Erich Fried 1921 – 1988. Materialien und Texte zu Leben und Werk, zusammengestellt und bearbeitet von Volker Kaukoreit und Heidemarie Vahl, Darmstadt (Verlag Jürgen Häusser) und Düsseldorf (Heinrich-Heine-Institut) 1991