Literatur heute muss Friedensforschung sein: Christa Wolf

Ein politisches Ereignis

Wenn eine west­deutsche Akademie einen Schrift­steller aus der DDR mit einem Preis bedenkt, dann ist das immer noch, und in diesen Tagen erst recht, auch ein politisches Ereignis.
J. Quack, Finstere Erfahrungen FAZ, 18.10.1980

Mit Christa Wolf wurde seit Ingeborg Bachmann 1964 zum ersten Mal wieder eine Frau ausgezeichnet. Vor allem aber – und dies ist ein Novum – galt die Auszeichnung erstmals einer in der DDR lebenden Schriftstellerin.

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Christa Wolf war über Jahrzehnte eine der wichtigsten und weltweit gehörten Stimmen der deutschen Literatur. Bereits mit ihrer zweiten Veröffentlichung, dem Roman „Der geteilte Himmel“ über die Problematik des geteilten Deutschlands, erschienen 1963 im Mitteldeutschen Verlag, Halle /1964 im Weiss Verlag, Berlin, wurde sie schlagartig in Ost und West zu einer viel beachteten Schriftstellerin der jüngeren Generation. Bis zu ihrer Auszeichnung mit dem Büchner-Preis 1980 veröffentlichte sie unter anderem „Nachdenken über Christa T“. 1968/1969 im Luchterhand Verlag, Darmstadt, die Lebensgeschichte einer Frau, die sich vom normgetreuen Verhalten ihrer Altersgenossen abhebt und innerhalb der Gesellschaft keine Möglichkeit findet, sie selbst sein zu können. 1976/77 folgte der Roman „Kindheitsmuster“, in dessen Mittelpunkt die Rekonstruktion der eigenen Kindheit und Jugend während des Nationalsozialismus steht, und schließlich 1979/79 die Erzählung „Kein Ort. Nirgends“, die eine Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Caroline von Günderode imaginiert.

Hans Altenhein und Christa Wolf im Gespräch 1986 in Leipzig
DDR-Literatur in Westdeutschland. Wie ist es dazu gekommen?
Hans Altenhein, Verleger Christa Wolfs, antwortet.
Dauer: 00:02:13



Zur Person: Hans Altenhein, geboren 1927, war zur Zeit der deutschen Teilung von 1973 bis 1987 Leiter des westdeutschen Luchterhand Verlags und Verleger von Christa Wolf. In den folgenden Audiotakes spricht er über Literatur als (einzige) Möglichkeit der Verständigung, über die Preisrede von Christa Wolf und über die DDR als Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts.
Audioaufzeichnung vom 3. August 2021, © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Hans Altenhein, Verleger Luchterhand, und Christa Wolf im Gespräch, 1986 in Leipzig
Foto: Hans Altenhein

Bitte nicht vor leerem Sessel. Die Jury-Diskussion

Christa Wolf wurde bereits Mitte der 1970 Jahre immer wieder als Kandidatin für den Büchner-Preis diskutiert. Diesmal – 1980 – sollte es mit der Wahl endlich soweit sein, allerdings nicht ohne Befürchtungen der Jurymitglieder.

Jurymitglieder: Peter de Mendelssohn, Beda Allemann, Herman Dieter Betz (Hessisches Kultusministerium), Ludwig Harig, Karl Krolow, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Dolf Sternberger, Gerhard Storz (Ehrenpräsident), Hans-J. Weitz, Eva Zeller, Bernhard Zeller. Entschuldigt waren: Horst Rüdiger und Bruno Snell (Ehrenpräsident)

Aus dem Jury-Protokoll vom 20.6.1980

Herr Sternberger erinnert daran, daß es vor zwei Jahren innerhalb der Jury beinahe eine communis opinio für Christa Wolf gegeben habe und nur politische Gründe eine Auszeichnung verhindert hätten. Das politische Klima sei aber inzwischen günstiger. Als kenntnisreicher Gewährsmann habe ihm Dr. Altenhein (Luchterhand-Verlag) versichert, daß eine Auszeichnung Christa Wolf nur nützen könne und ihr auf keinen Fall schaden werde. Der Büchnerpreis unterliege keiner politischen Verdächtigung, sein Rang stehe außer Zweifel.

Dolf Sternberger, Jury-Mitglied 1986
Dolf Sternberger, Jury-Mitglied 1980
Foto: Deutsche Akademie

Einwände hingegen kamen von Peter de Mendelssohn

Nach einer Reihe von Preisverleihungen in Abwesenheit der Preisträger […] könne es sich die Akademie nicht länger leisten, eine Preisverleihung „vor leerem Sessel“ vorzunehmen. Christa Wolf sei in dieser Hinsicht in ihrer Entscheidung nicht frei, wie auch die jüngsten Angriffe gegen sie im „Neuen Deutschland“ und in der Zeitschrift „Germanistik“ zeigten. Die Akademie dürfe sich nicht „in die Hände der Stasi“ begeben. Aus diesem Grunde sei er, de Mendelssohn, gegen eine Auszeichnung Christa Wolfs, obwohl sie die beste Kandidatin sei.

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Herr Storz hält dagegen, gerade wenn man aus den genannten Gründen eine Auszeichnung unterlasse, begebe man sich in die Hände der Stasi.

Herr Sternberger betont, daß das Kriterium der Qualität doch nicht gleichgültig sei. Angesichts dessen sei es eine Nebenerwägung, ob Christa Wolf zur Preisverleihung kommen könne oder nicht. Einwendungen gegen Christa Wolf wie die Angriffe im „Neuen Deutschland“ seien innerhalb der DDR den Auskünften Dr. Altenheins zufolge chronisch vorhanden. Im Hinblick auf das bevorstehende Treffen Honnecker-Schmidt sei der gegenwärtige Moment jedoch politisch vergleichsweise günstig.

Herr Sabais stimmt dem zu und bemerkt, daß, falls Christa Wolf nicht kommen könne, der „leere Sessel“ ein Politikum wäre, das sich die DDR eigentlich gar nicht leisten könne. Falls sie es doch tue, müsse bei der Preisverleihung Entsprechendes gesagt werden. Nach Herrn Zellers Meinung ist allein entscheidend, ob Christa Wolf den Preis annehme. Frau Zeller hält es für wichtig, dass die Akademie den Mut zeige, Christa Wolf den Preis zu geben.

Umständliches Wahlmanöver

In Anbetracht der von Herrn de Mendelssohn zur Sprache gebrachten Probleme im Falle einer Auszeichnung Christa Wolfs wird erwogen, ob man sie anrufen und fragen solle, ob sie den Preis annehmen werde. Herr Zeller macht darauf aufmerksam, daß das Gespräch möglicherweise abgehört werde. Herr Sternberger schlägt vor, sich der Vermittlung Dr. Altenheins zu bedienen. Zunächst nahm die Jury eine Probeabstimmung zwischen Christa Wolf und dem anderen ernsthaft diskutierten Kandidaten Botho Strauß vor.
Ergebnis: Christa Wolf: 8 Ja Stimmen, Botho Strauß: 5 Ja Stimmen

Eva Zeller und Ludwig Harig, Jury-Mitglieder 1980
Hans Altenhein zur Jury-Sitzung. „Die Fixierung auf die Stasi war im Westen ein besonderes Kennzeichen.“
Dauer: 00:03:01
Audioaufzeichnung vom 3. August 2021
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Eva Zeller und Ludwig Harig, Jury-Mitglieder 1980
Foto: Deutsche Akademie

Große Unsicherheiten

Dann wendet sich die Debatte erneut der Frage zu, wie man ohne Risiko für die Akademie Christa Wolfs Reaktion auf eine Auszeichnung in Erfahrung bringen könne. Herr Harig und Herr de Mendelssohn sind dagegen, daß man den Verlag einschaltet. Doch was sei zu tun, wenn Christa Wolf den Preis nicht annehme?

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Da die Diskussion sich in weiteren Spekulationen verliert, stellt Herr de Mendelssohn die Frage zur Abstimmung, ob die Jury ihre Entscheidung ohne vorherige Vergewisserung über die Reaktion Christa Wolfs treffen solle. Ergebnis: Dafür: 9 Stimmen, dagegen: 1 Stimme, Enthaltung: 1 Stimme

Nun gab es kein Hinauszögern, keine Manöver mehr. Die verbindliche Abstimmung wurde vorgenommen. Das Ergebnis: 10 Ja Stimmen, 1 Stimmenthaltung, keine Gegenstimme. Christa Wolf wurde zur Büchner-Preisträgerin 1980 gewählt.

Christa Wolf in der Orangerie Darmstadt kurz vor ihrer Lesung
Christa Wolf in der Orangerie Darmstadt kurz vor ihrer Lesung am 14. Oktober 1980
Foto: Deutsche Akademie

Im Spannungsfeld zwischen Ost und West. Die politische Lage um 1980

Christa Wolf wusste sehr wohl, was sie tat, als sie den Preis annahm. Sie wusste auch, dass die politische Wirkung des Preises in der DDR eine andere als im Westen sein würde. Ihr Land befand sich in einer Krise des polit­ischen wie des literarischen Lebens, ihre Freundin Sarah Kirsch hatte 1977 im Zuge der Biermann-Affäre die DDR bereits verlassen, Christa Wolf selbst war von ihrer Partei, der SED, gemaßregelt worden, junge Schrift­steller wurden verhaftet. 1980 war Polen im Aufruhr, die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein.

Die Verleihung war aus Sicht der DDR ein außenpolitisches Risiko. Noch kurz zuvor gab es die Befürchtung, der amtierende Bundespräsident Karl Carstens könne als Gratulant einen diplomatischen Konflikt auslösen, ein Anruf beim Protokoll ergab die beruhigende Antwort: Sein nicht mehr amtierender Vorgänger Walter Scheel werde ihn vertreten. (Hans Altenhein)

Peter de Mendelsohn gratuliert Christa Wolf
Peter de Mendelssohn und Walter Scheel gratulieren Christa Wolf zum Büchner-Preis
Foto: Deutsche Akademie

Außerdem: Ende der 70er Jahre begann sich der Kalte Krieg bedrohlich zuzuspitzen. Der im Dezember 1979 gefasste „Nato-Doppelbeschluss“ sah die Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenwaffen in Europa vor. Die Atomwaffen sollten aus strategischen Gründen in der BRD mit Zielrichtung auf die DDR stationiert werden. Es war ein Rüstungswettlauf zwischen Ost und West, dem die Friedensbewegung Widerstand leistete. Daran beteiligten sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen, darunter auch zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die eine gesamt­deutsche Allianz zu stärken suchten. Auf dem ersten großen Autorentreffen zwischen Ost und West im Dezember 1981 namens „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“ nahm auch Christa Wolf teil und äußerte sich zur Aufgabe der Literatur in diesen Zeiten:

Christa Wolf mit erhobener Faust
Foto: akg-images

Freundlichkeit, Anmut, Duft, Klang, Würde, Poesie, Vertrauen, auch Spontaneität – das eigentlich Menschliche. Das, was am ehesten verfliegt, wenn eine Vorkriegs­atmosphäre sich breitmacht. Dagegen, finde ich, müssen wir anschreiben… So schreiben, daß die Gesellschaft, in der man lebt, den größten Nutzen davon hat. Das bedeutet: kritisch. Die Gesellschaft durch Kritik auf das aufmerksam machen, was ihr helfen könnte, zu leben und zu überleben. Davon kann ich mich auf keinen Fall abhalten lassen.

Christa Wolf im Staatstheater Darmstadt
Kurz vor der Urkundenübergabe des Büchner-Preises
Die Preisrede Christa Wolfs. Eine überwältigende Erfahrung.
Dauer: 00:03:04
Audioaufzeichnung vom 3. August 2021, © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Preisverleihung im Staatstheater Darmstadt
v.l. Walter Scheel, Peter de Mendelssohn, Christa Wolf, Gerhard Wolf, Hanno Helbling
Foto: Jürgen Schmidt

Die Dankrede

Die Büchner-Preisverleihung an Christa Wolf fand am 16. Oktober 1980 im Staatstheater Darmstadt statt. In ihrer Rede forderte sie: Literatur heute muss Friedensforschung sein.

Wie Zeitungsberichten zu entnehmen ist, war der Publikumsandrang zur Büchner-Preisverleihung recht groß. Viele vermuteten wohl, dass sich Christa Wolf kritisch gegenüber der DDR äußern würde. Doch kam es anders. Vielmehr bekamen sie Wut und Schmerz über eine verkehrte Welt zu hören, verkehrt im Krieg, verkehrt im Geschlechterkrieg.

Akademiepräsident Peter de Mendelsohn überreicht die Urkunde an Christa Wolf
Büchner wieder lesen, heißt die eigene Lage schärfer sehen.
Dankrede
In dieser Klagerede bleibt Literatur die einzige Utopie. Und in ihr ist bereits angelegt, was Christa Wolf in ihrer drei Jahre später erschienenen Erzählung „Kassandra“ entwickelte: die geschlechtsspezifische Unterdrückung und die Durchsetzung von Machtinteressen, bis hin zu kriegerischem Verhalten, aus der patriarchalen Ordnung heraus; die Verbindung der pazifistischen mit der feministischen Thematik zu einem „systemübergreifenden, grundlegend zivilisationskritischen Modell“.

Christa Wolf: Dankrede, gehalten am 16. Oktober 1980
Archiv des Hessischen Rundfunks
Dauer: 00:33:15
© Hessischer Rundfunk
Akademiepräsident Peter de Mendelssohn überreicht die Urkunde an Christa Wolf
Foto: Jürgen Schmidt

Von der Büchner-Preisrede bis zu ihrem Tod 2011 liegen noch zahlreiche Veröffentlichungen, die nicht zu trennen sind von einschneidenden politischen Ereignissen und persönlichen Erschütterungen Christa Wolfs: Die Wende 1989, der heftige sogenannte Literaturstreit um 1990, das Leben im „vereinten Deutschland“.

In ihrer letzten Veröffentlichung „Stadt der Engel oder the Overcoat of Dr. Freud“ (2010), eng angelehnt an die eigene Biografie, erzählt sie von all dem – einem Menschenleben, das drei deutschen Staats- und Gesellschaftsformen standhält, von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Kunst des sich Erinnerns.

Der Büchner-Preis war eine kleine Episode in dem ereignisreichen Leben von Christa Wolf. Gleichwohl bot er eine Öffentlichkeit für eine deutsch-deutsche Annäherung, für eine Art Brückenschlag in einer äußerst angespannten politischen Situation. „Der ungünstigste Augenblick, aber die beste Gelegenheit“. (Hans Altenhein)

Christa Wolf bei den Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1982
Christa Wolf hält 1982 in der Universität in Frankfurt am Main ihre erste Vorlesung zum Thema „Kassandra“, Foto: akg-images