Mit Christa Wolf wurde seit Ingeborg Bachmann 1964 zum ersten Mal wieder eine Frau ausgezeichnet. Vor allem aber – und dies ist ein Novum – galt die Auszeichnung erstmals einer in der DDR lebenden Schriftstellerin.
Christa Wolf war über Jahrzehnte eine der wichtigsten und weltweit gehörten Stimmen der deutschen Literatur. Bereits mit ihrer zweiten Veröffentlichung, dem Roman „Der geteilte Himmel“ über die Problematik des geteilten Deutschlands, erschienen 1963 im Mitteldeutschen Verlag, Halle /1964 im Weiss Verlag, Berlin, wurde sie schlagartig in Ost und West zu einer viel beachteten Schriftstellerin der jüngeren Generation. Bis zu ihrer Auszeichnung mit dem Büchner-Preis 1980 veröffentlichte sie unter anderem „Nachdenken über Christa T“. 1968/1969 im Luchterhand Verlag, Darmstadt, die Lebensgeschichte einer Frau, die sich vom normgetreuen Verhalten ihrer Altersgenossen abhebt und innerhalb der Gesellschaft keine Möglichkeit findet, sie selbst sein zu können. 1976/77 folgte der Roman „Kindheitsmuster“, in dessen Mittelpunkt die Rekonstruktion der eigenen Kindheit und Jugend während des Nationalsozialismus steht, und schließlich 1979/79 die Erzählung „Kein Ort. Nirgends“, die eine Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Caroline von Günderode imaginiert.
Christa Wolf wurde bereits Mitte der 1970 Jahre immer wieder
als Kandidatin für den Büchner-Preis diskutiert. Diesmal – 1980 – sollte es mit
der Wahl endlich soweit sein, allerdings nicht ohne Befürchtungen der
Jurymitglieder.
Jurymitglieder: Peter de
Mendelssohn, Beda Allemann, Herman Dieter Betz (Hessisches Kultusministerium),
Ludwig Harig, Karl Krolow, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Dolf
Sternberger, Gerhard Storz (Ehrenpräsident), Hans-J. Weitz, Eva Zeller,
Bernhard Zeller. Entschuldigt waren: Horst
Rüdiger und Bruno Snell (Ehrenpräsident)
Herr Sternberger erinnert daran, daß es vor zwei Jahren innerhalb der Jury beinahe eine communis opinio für Christa Wolf gegeben habe und nur politische Gründe eine Auszeichnung verhindert hätten. Das politische Klima sei aber inzwischen günstiger. Als kenntnisreicher Gewährsmann habe ihm Dr. Altenhein (Luchterhand-Verlag) versichert, daß eine Auszeichnung Christa Wolf nur nützen könne und ihr auf keinen Fall schaden werde. Der Büchnerpreis unterliege keiner politischen Verdächtigung, sein Rang stehe außer Zweifel.
Nach einer Reihe von Preisverleihungen in Abwesenheit der Preisträger […] könne es sich die Akademie nicht länger leisten, eine Preisverleihung „vor leerem Sessel“ vorzunehmen. Christa Wolf sei in dieser Hinsicht in ihrer Entscheidung nicht frei, wie auch die jüngsten Angriffe gegen sie im „Neuen Deutschland“ und in der Zeitschrift „Germanistik“ zeigten. Die Akademie dürfe sich nicht „in die Hände der Stasi“ begeben. Aus diesem Grunde sei er, de Mendelssohn, gegen eine Auszeichnung Christa Wolfs, obwohl sie die beste Kandidatin sei.
Herr Storz hält dagegen, gerade wenn man aus den genannten Gründen eine Auszeichnung unterlasse, begebe man sich in die Hände der Stasi.
Herr Sternberger betont, daß das Kriterium der Qualität doch nicht gleichgültig sei. Angesichts dessen sei es eine Nebenerwägung, ob Christa Wolf zur Preisverleihung kommen könne oder nicht. Einwendungen gegen Christa Wolf wie die Angriffe im „Neuen Deutschland“ seien innerhalb der DDR den Auskünften Dr. Altenheins zufolge chronisch vorhanden. Im Hinblick auf das bevorstehende Treffen Honnecker-Schmidt sei der gegenwärtige Moment jedoch politisch vergleichsweise günstig.
Herr Sabais stimmt dem zu und bemerkt, daß, falls Christa Wolf nicht kommen könne, der „leere Sessel“ ein Politikum wäre, das sich die DDR eigentlich gar nicht leisten könne. Falls sie es doch tue, müsse bei der Preisverleihung Entsprechendes gesagt werden. Nach Herrn Zellers Meinung ist allein entscheidend, ob Christa Wolf den Preis annehme. Frau Zeller hält es für wichtig, dass die Akademie den Mut zeige, Christa Wolf den Preis zu geben.
In Anbetracht der von Herrn de Mendelssohn zur
Sprache gebrachten Probleme im Falle einer Auszeichnung Christa Wolfs wird
erwogen, ob man sie anrufen und fragen solle, ob sie den Preis annehmen werde. Herr
Zeller macht darauf aufmerksam, daß das Gespräch möglicherweise abgehört werde.
Herr Sternberger schlägt vor, sich der Vermittlung Dr. Altenheins zu bedienen. Zunächst nahm die Jury eine Probeabstimmung zwischen Christa Wolf und dem anderen ernsthaft diskutierten Kandidaten Botho Strauß vor.
Ergebnis: Christa Wolf: 8 Ja Stimmen, Botho Strauß: 5 Ja Stimmen
Dann wendet sich die Debatte erneut der Frage zu, wie man ohne Risiko für die Akademie Christa Wolfs Reaktion auf eine Auszeichnung in Erfahrung bringen könne. Herr Harig und Herr de Mendelssohn sind dagegen, daß man den Verlag einschaltet. Doch was sei zu tun, wenn Christa Wolf den Preis nicht annehme?
Da die Diskussion sich in weiteren Spekulationen verliert, stellt Herr de Mendelssohn die Frage zur Abstimmung, ob die Jury ihre Entscheidung ohne vorherige Vergewisserung über die Reaktion Christa Wolfs treffen solle. Ergebnis: Dafür: 9 Stimmen, dagegen: 1 Stimme, Enthaltung: 1 Stimme
Nun gab es kein Hinauszögern, keine Manöver mehr. Die verbindliche Abstimmung wurde vorgenommen. Das Ergebnis: 10 Ja Stimmen, 1 Stimmenthaltung, keine Gegenstimme. Christa Wolf wurde zur Büchner-Preisträgerin 1980 gewählt.
Christa Wolf wusste sehr wohl, was sie tat, als sie den Preis annahm. Sie wusste auch, dass die politische Wirkung des Preises in der DDR eine andere als im Westen sein würde. Ihr Land befand sich in einer Krise des politischen wie des literarischen Lebens, ihre Freundin Sarah Kirsch hatte 1977 im Zuge der Biermann-Affäre die DDR bereits verlassen, Christa Wolf selbst war von ihrer Partei, der SED, gemaßregelt worden, junge Schriftsteller wurden verhaftet. 1980 war Polen im Aufruhr, die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein.
Die Verleihung war aus Sicht der DDR ein außenpolitisches Risiko. Noch kurz zuvor gab es die Befürchtung, der amtierende Bundespräsident Karl Carstens könne als Gratulant einen diplomatischen Konflikt auslösen, ein Anruf beim Protokoll ergab die beruhigende Antwort: Sein nicht mehr amtierender Vorgänger Walter Scheel werde ihn vertreten. (Hans Altenhein)
Außerdem: Ende der 70er Jahre begann sich der Kalte Krieg bedrohlich zuzuspitzen. Der im Dezember 1979 gefasste „Nato-Doppelbeschluss“ sah die Stationierung neuer nuklearer Mittelstreckenwaffen in Europa vor. Die Atomwaffen sollten aus strategischen Gründen in der BRD mit Zielrichtung auf die DDR stationiert werden. Es war ein Rüstungswettlauf zwischen Ost und West, dem die Friedensbewegung Widerstand leistete. Daran beteiligten sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen, darunter auch zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die eine gesamtdeutsche Allianz zu stärken suchten. Auf dem ersten großen Autorentreffen zwischen Ost und West im Dezember 1981 namens „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“ nahm auch Christa Wolf teil und äußerte sich zur Aufgabe der Literatur in diesen Zeiten:
Wie Zeitungsberichten zu entnehmen ist, war der Publikumsandrang zur Büchner-Preisverleihung recht groß. Viele vermuteten wohl, dass sich Christa Wolf kritisch gegenüber der DDR äußern würde. Doch kam es anders. Vielmehr bekamen sie Wut und Schmerz über eine verkehrte Welt zu hören, verkehrt im Krieg, verkehrt im Geschlechterkrieg.
Von der Büchner-Preisrede bis zu ihrem Tod 2011 liegen noch zahlreiche Veröffentlichungen, die nicht zu trennen sind von einschneidenden politischen Ereignissen und persönlichen Erschütterungen Christa Wolfs: Die Wende 1989, der heftige sogenannte Literaturstreit um 1990, das Leben im „vereinten Deutschland“.
In ihrer letzten Veröffentlichung
„Stadt der Engel oder the Overcoat of Dr. Freud“ (2010), eng angelehnt an die
eigene Biografie, erzählt sie von all dem – einem
Menschenleben, das drei deutschen Staats- und Gesellschaftsformen standhält,
von einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Kunst des sich
Erinnerns.
Der Büchner-Preis war eine kleine Episode in dem ereignisreichen Leben von Christa Wolf. Gleichwohl bot er eine Öffentlichkeit für eine deutsch-deutsche Annäherung, für eine Art Brückenschlag in einer äußerst angespannten politischen Situation. „Der ungünstigste Augenblick, aber die beste Gelegenheit“. (Hans Altenhein)