Briefumschlag Peter Rühmkorf
„So läßt sich denn der Versuch, das oszillier­ende Wesen und Werken des Büchner-Preisträgers 1993 an­gemessen zu wür­digen, allererst auf die Formel ein: Er ist (Lewwer duad üs Slaav) ein Anarchist. Oder richtiger, um es mit Ernst Jüngers Begriffs­bestimmung zu fassen, ein Anarch.“ Die Rede ist von Peter Rühmkorf.
Peter Wapnewski: Laudatio

Deutschland, ein Lügen­märchen

Der [...] Fall der Mauer war für alle mittelbar oder unmittelbar Beteiligten ein wie durch Zauberkraft erwirktes Zerbröckelungswunder: das Volk hatte seinen eigenen Namen ausgerufen, und die Volkskammerabgeordneten und die Volksarmee und die Volkspolizei erstarrten in Anhörung des magischen Wortes, und die eben noch für allmächtig gehaltene Staatssicherheit stand gelähmt zwischen ihren Aktenordnern und Tonbandgirlanden und Weckgläsern mit stinkgeheimen Duftprotokollen. Und tatsächlich ein zweites Mal in einem begrenzten Menschenleben glaubten wir für ein paar bewegende Weltsekunden einen Sinn in der geschichtlichen Fatalität zu erkennen – bis – bis – na, Sie wissen ja – bis die Revolutionsspekulanten an die Stelle des Mirakels eilten und den von niemandem vorausgesehenen Sternschnuppenregen in ihre eigenen, weit ausgespannten Schürzen lenkten.

Peter Rühmkorf: Dankrede
Peter Rühmkorf bei der Lesung
Peter Rühmkorf: Ausschnitt aus der Dankrede, gehalten am 16. Oktober 1993
Archiv der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Dauer: 00:02:38
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Foto: Barbara Aumüller
Peter Rühmkorf im Gespräch
Peter Rühmkorf: Ausschnitt aus der Dankrede, gehalten am 16. Oktober 1993
Archiv der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Dauer: 00:01:13
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Peter Rühmkorf im Gespräch mit Gustav Korlén (links)
Foto: Barbara Aumüller

Peter Rühmkorf stand schon einmal als Preisträger auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt – das war im Jahr 1976. Damals wurde ihm der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay verliehen. Wie kam es dazu?

Bereits 1976
in der Jury­diskussion

Peter Rühmkorf wurde bereits 1976 für den Büchner-Preis diskutiert, allerdings äußerst kontrovers. Nachdem Wolfgang Weyrauch sagte, Rühmkorf sei der Kandidat des einflussreichen Literatur­redakteurs Reich-Ranicki, hatte der Lyriker keine Chance mehr, in die Endabstimmung zu kommen. Dass Rühmkorf 1976 dann den Merck-Preis für literarische Kritik und Essay bekam, scheint wie eine Art Trostpreis. Zumindest muss dies Rühmkorf so aufgefasst haben. Seine Dankrede zum Merck-Preis war eine virtuose Gemengelage zwischen Ironie und Schmerz, ob des Umstands, dass ihm der „Apfel des Paris“, der Preis für Literatur verwehrt worden war und er stattdessen in den Bereich der „Schreibmaschinisten“ verwiesen wurde.

Auszug aus dem Protokoll der Jurysitzung 1976, in der Peter Rühmkorf schon zur Diskussion stand
Juryprotokoll (Auszug) vom 15.6.1976. © Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Peter Rühmkorf während seiner Dankrede
Peter Rühmkorf während seiner Dankrede zum Johann-Heinrich-Merck-Preis 1976. Foto: Peter Hönig
Peter Rühmkorf mit Band bei der Büchner-Preislesung in der Orangerie, 1993
Peter Rühmkorf mit Band bei der Büchner-Preis-Lesung in der Orangerie Darmstadt, 1993
Foto: Barbara Aumüller