Ich bin über­zeugt von der begriffs­auf­lösen­den und da­mit zukunfts­mächtigen Kraft des poe­ti­schen Denkens.
Peter Handke: Dankrede
1973: Peter Handke
Foto: Pit Ludwig

„Der einzig ‚Geniale‘ unter den Jungen“

Die Jury der Akademie tritt am 5. Juni 1973 zusammen, um über die Kandidaten für den Büchner-Preis und die beiden anderen im Herbst vergebenen Preise zu beraten. Auf einem „Erinnerungs­zettel“ sind fünf Namen notiert, die aus früheren Beratungen festgehalten wurden.

Peter Handke ist mit 30 Jahren der bis dahin jüngste Preis­träger in der Geschichte des Preises. Kurz nach der Sitzung wird er vom General­sekretär Ernst Johann benachrichtig, er antwortet am 12. Juni, höflich und erfreut. Wie Handke in einem Gespräch kurz nach der Preis­verleihung einbekennt, belastet ihn jedoch die damit einher­gehende institutionelle Aner­kennung und Verein­nahmung: Letztens habe ich geträumt von diesem Büchner-Preis. Da gibt’s doch immer eine Laudatio. Hab’ ich geträumt, da war einer, der nahm seine Kinder mit aufs Podium während der Laudatio. Die haben ihn dauernd unter­brochen ... Und dann kam mein Bruder, und der sollte eine Laudatio auf mich halten. Und der hat dann nur erzählt, wie er am letzten Abend sich angesoffen hat mit Bier.

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Und dann habe ich gemerkt, daß ich noch immer keine Rede geschrieben hatte, und da bin ich natürlich aufgewacht. Das ist halt auch ein Beispiel dafür, wie leicht man sich selber fremd wird, wenn man jetzt so institutiona­lisiert wird. Ich kann das eigentlich nicht akzeptieren.

M. Durzak: Gespräch mit dem Autor: Peter Handke, in: Die Welt, 1.11.1973
Brief von Peter Handke vom 12.6.1973 an die Akademie, Annahme des Büchner-Preises
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

„Die Gebor­gen­heit unter der Schädel­decke“

Vom 18. bis zum 21. Okto­ber kommt die Akademie in Darmstadt zu ihrer Herbst­tagung zusammen. Es geht um Herrschaft und Gesellschaft in der Sprache. „Dabei erwies sich“, heißt es in der Rheinischen Post am 22. Oktober, „was noch nie bei einer Akademie­tagung vorge­kommen war, daß der Spreng­stoff von ihr selbst entzündet wurde: durch Diskussio­nen über ‚Gutes Deutsch in der Schule‘, über Hochsprache und Sprache der sozialen Umwelt und durch die im Hinter­grund gemeinten (oder anvisierten) Hessischen Rahmen­richtlinien zum Deutsch­unterricht. Was vor Jahren noch die Gemüter erhitzt hätte, Attacken von Peter Handke gegen Nixon“, sei durch das sprach- und schul­politische Thema überlagert worden.

P. Hübner: Die Schwer­mut der Selbst­befragung, in: Rheinische Post, 22.10.1973
Programm der Herbsttagung 18. bis 21.10.1973

Der Büchner-Preis beschließt das Programm der Preis­verleihung am letzten Tag der Herbst­tagung. Rolf Michaelis hält die Laudatio auf Peter Handke. „Handkes Sprache“, so hebt er hervor, „der moralische Ernst, mit dem hier einer sich selbst aussetzt, wäscht uns die Augen, beschert ein nicht immer und nicht allen Lesern will­komme­nes Geschenk: den ‚fremden Blick‘.“ Genau diese Kraft der Befreiung durch Befremdung ist dann auch das Thema von Peter Handkes Rede, getragen von der Frage: „Wie wird man ein poetischer Mensch?“

Aufnahme des Auditoriums mit Peter Handke während der Büchner-Preisverleihung 1973
Peter Handke: Ausschnitt aus der Dankrede, gehalten am 20. Oktober 1973
Archiv des Hessischen Rundfunks
Dauer: 00:09:54
© Hessischer Rundfunk
Foto: Pit Ludwig
Urkunde Georg-Büchner-Preis 1973 an Peter Handke

Ein Akt der Glaub­würdig­keit – 1999

Am 2. April 1999 erreicht die Akademie ein An­ruf aus der Redak­tion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Peter Handke wolle den Büchner-Preis zurück­geben. Kurz darauf wird dieses Gerücht bestätigt, am 6. April erklärt Peter Handke in dem öster­reichi­schen Blatt News seinen Austritt aus der „momentanen katho­lischen Kirche“, weil diese den „NATO-Krieg gegen Jugo­slawien“ gutheiße, und noch eine „andere Kleinig­keit“:

Telefonnotiz zur Rückgabe des Büchner-Preises durch Peter Handke

Das Preis­geld für den mir 1973 gegebenen Büchner­preis gebe ich an die Deutsche Akademie zurück (zum Glück waren’s damals nur 10.000 DM): „symbolisch“, so wie es laut den westlichen Medien das Zu­schlagen der NATO im Herzen Belgrads ist, „unver­meidlich“, wie, laut fast aller Welt, der Krieg der „Welt“ gegen Jugo­slawien; um meine „Glaub­würdigkeit nicht zu verlieren“. Einem jeden seine Glaub­würdigkeit.

Peter Handke gibt den Büchner-Preis zurück, Hessenschau, Hessischer Rundfunk, 13.4.1999
© Hessischer Rundfunk

In der Mitglieder­versamm­lung während der Frühjahrs­tagung berichtet der Präsident Christian Meier, dass die Akademie über diesen Schritt nicht von Peter Handke erfahren habe, sondern aus der Presse. Darauf setzt eine kontro­verse Diskussion unter den Mitglie­dern ein, wie sich die Akademie zur Rückgabe des Preis­geldes ver­halten solle. Herr Pörksen vermisst in der von der dpa vermel­deten Reaktion des Präsidenten den Respekt gegenüber der Ent­scheidung Handkes.

Aus dem Protokoll der Akademiesitzung nach der Rückgabe des Büchner-Preises durch Peter Handke
Protokoll der Mitgliederversammlung vom 4.4.1999
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

In der Öffentlichkeit wird der Schritt Peter Handkes als Rückgabe des Büchner-Preises verstanden, auch wenn in seiner Erklärung ausschließlich davon die Rede ist, das Geld der öffentlichen Preisstifter aus Protest zurückzugeben. Der Akademie fällt es schwer, eine klare Haltung zur Protestaktion Peter Handkes zu entwickeln, ihre öffentlichen Reaktionen sind zunächst von Ratlosigkeit geprägt. So kann die tageszeitung auf ihrer Seite „Die Wahrheit“ die Geschehnisse weiterspinnen: Bei der Akademie gingen nunmehr Briefe ein, in denen der Anspruch auf den frei gewordenen Preis angemeldet werde – so dass die Akademie genötigt sei, noch einmal zu betonen, der Büchner-Preis 1973 sei an Peter Handke vergeben worden und daran werde man festhalten.

taz-Artikel über die Rückgabe des Büchner-Preises von Peter Handke
Gerhard Henschel, in: taz, 9.6.1999