Ein Skandalon der Gegenwartsliteratur

Am 30. April 1984 treffen sich die Mitglieder des Erweiterten Präsidiums der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im Großen Haus Glückert auf der Darmstädter Mathildenhöhe, dem Sitz der Akademie. Thema der Sitzung ist unter anderem die Entscheidung über die Trägerinnen und Träger des Büchner-, Freud- und Merck-Preises 1984. Anwesend sind Vizepräsident Herbert Heckmann, seit dem knapp zwei Jahre zurückliegenden Tod von Präsident Peter de Mendelssohn an der Spitze der Akademie, die beiden anderen Vizes Ludwig Harig und Eva Zeller sowie sechs Beisitzerinnen und Beisitzer. Außerdem Bürgermeister Peter Benz als Vertreter des Magistrats der Stadt Darmstadt sowie aus dem Akademie-Büro Generalsekretär Gerhard Dette und die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit Marieluise Hübscher-Bitter.

„Im Hinblick auf den Georg-Büchner-Preis wurden in den letzten Wochen und Monaten Bücher von Ernst Jandl, Heiner Müller, Christoph Meckel und Dieter Wellershoff an die Jury-Mitglieder verschickt. Zur Debatte standen im letzten Jahr überdies Günter Kunert und Adolf Muschg. Vorgemerkt werden sollten außerdem: Horst Bienek, Peter Härtling und Hans-Jürgen Fröhlich“, heißt es in der Einladung zur Jurysitzung vom 27. März 1984. In der Sitzung selbst werden nun auch der österreichische Lyriker Erich Fried und der Schweizer Schriftsteller Gerold Späth als mögliche Kandidaten genannt. Ausführlich gesprochen wird jedoch zunächst über Dieter Wellershoff, der neben seiner Tätigkeit als freier Autor und Literaturtheoretiker als Lektor für den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch arbeitet. Nachdem man sich einig geworden ist, dass Wellershoff sich mit seinem jüngsten Roman „Der Sieger nimmt alles“ (1983) „gewissermaßen um Kopf und Kragen geschrieben“ hat (Bernhard Zeller), wendet sich die Diskussion Heiner Müller zu.

Porträt von Heiner Müller
Interview mit Heiner Müller zur Preisvergabe
Dauer: 3:08
© Hessischer Rundfunk
Heiner Müller, Berlin 1980er Jahre © Wolfgang Krolow
Audio: Interview mit Heiner Müller zum Georg-Büchner-Preis

Bereits im Vorfeld der Sitzung hatte sich Beisitzer Hans Paeschke, Mitbegründer und langjähriger Chefredakteur der Kulturzeitschrift Merkur, für den ostdeutschen Dichter und Dramatiker in die Bresche geworfen. In einem sechsseitigen Brief an den Generalsekretär äußerte er die Vermutung, „daß da am 30. April [bei der Jurysitzung] unserem Kunstgewissen so etwas wie eine Schlacht bevorsteht“. Paeschke sah zwei gegnerische Lager: die einen, die Heiner Müller für „den bedeutendsten deutschen Theaterautor seit Bert Brecht“ hielten, und die anderen, namentlich die Literaturkritik, die sich „wohl aus einer Mischung von Faszination, Verwirrung und Verstörung“ zu einer Beurteilung von Müllers Werk nicht in der Lage sähen. „Kein Zweifel“, so Hans Paeschke, „wir haben es mit einem Skandalon unserer Gegenwartsliteratur zu tun!“

Zur Bekräftigung seines Loblieds auf die „von Christa Wolf einmal abgesehen […] mit Abstand stärkste Potenz unter den Schriftstellern, die in der DDR leben oder von dort zu uns kamen“, bemüht Paeschke außerdem Heiner Müllers Nähe zu Georg Büchner. Der junge Müller hatte bereits 1956 ein Gedicht zum Gedenken an den von ihm verehrten und später auch übersetzten russischen Dichter Wladimir Majakowski verfasst, in dem er auf Büchner Bezug nahm. Darin heißt es zum Abschluss:

„ODER BÜCHNER, der in Zürich starb
100 Jahre vor deiner Geburt
Alt 23, aus Mangel an Hoffnung“
© Heiner Müller, Geschichten aus der Produktion 1, Berlin 1974

Wie wichtig Georg Büchner stets für Heiner Müller war, wie verwandt er sich ihm auch im Schreibprozess und im Bewusstsein der „Krise“ (der Form, der Gattung, des Dialogs, des Dramatischen überhaupt) gefühlt hat, erzählt er selbst in Konrad Herrmanns Dokumentarfilm „Lieb Georg“ von 1988. Erstmals mit dem Darmstädter Dichter in Berührung gekommen war Müller ein Jahr nach Kriegsende, als er auf dem Weg von Waren (Müritz) nach Sachsen in Güstrow strandete und durch Zufall in die allererste „Woyzeck“-Inszenierung der DDR hineingeriet. Der Theaterbesuch war für den damals Siebzehnjährigen „ungeheuer aufregend“, auch weil die Aufführung so „expressionistisch“ und „plötzlich ein Nachkriegsstück“ in der Art von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ war. Damals begann seine lebenslängliche Auseinandersetzung mit Georg Büchners Werk, das für ihn nicht weniger als den Beginn der modernen Dramatik markiert hat.

© aus: „Lieb Georg“. Auf den Spuren des Georg Büchner, Regie: Konrad Herrmann, Autor: Thomas Steinke, DEFA-Dok für das DDR-F, 1988; Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Mit den Antike-Stücken zum Durchbruch im Westen

Zum Zeitpunkt von Paeschkes flammen­dem Plädoyer für Heiner Müller ist dieser in der Bundesrepublik längst ein gefeierter Autor. Wurden bis 1968 nur zwei Stücke von ihm in Westdeutschland gespielt, kommt es dort bis zu seiner ersten USA-Reise 1975/1976 zu insgesamt 17 Inszenier­ungen – deutlich mehr als parallel dazu in der DDR. 1971 bereits war ihm der Förderpreis zum Lessing-Preis des Hamburger Senats zugesprochen worden, den Müller auf Druck der SED-Partei­führung allerdings abgelehnt hatte.

Auch die westdeutschen Verlage begannen sich in jenen Jahren zunehmend für ihn zu interessieren; ein erster Annäherungs­versuch von Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld war schon 1968 erfolgt. Ab 1974 wurde dann die Werkausgabe in der Zusammen­stellung von Müller selbst vom Hamburger Rotbuch Verlag in Kooperation mit dem Verlag der Autoren herausgegeben.

1977 wird in dieser Werkausgabe sowie zeitgleich in einem Sonderheft von Theater heute Müllers Stück „Germania Tod in Berlin“ veröffentlicht, laut henschel SCHAUSPIEL ein „Bilderbogen zur deutschen Geschichte in dreizehn Szenen […], der konkrete historische Ereignisse in der DDR, wie den Volksaufstand am 17. Juni 1953, neben mythische Sagen, phantastische Parodien und anachronistische Begegnungen setzt“. Die Uraufführung findet am 20. April 1978 an den Münchner Kammerspielen statt. Ein Jahr später wird die Inszenierung zu den vierten Mülheimer Theatertagen eingeladen. Mit sechs zu zwei Stimmen gegenüber Botho Strauß wird Heiner Müller der Mülheimer Dramatikerpreis zugesprochen. Das Preisgeld liegt bei 10.000 DM.

Diesmal nimmt Müller den Preis zwar an, schickt jedoch als seine Vertretung Karlheinz Braun vom Verlag der Autoren zur Preisverleihung, der die Danksagung an seiner statt verliest. Diese schließt mit einer Andeutung an Brechts „Fatzer“-Fragment, ein Stoff, mit dem sich Müller seit Mitte der Sechzigerjahre wiederholt beschäftigte und der unter anderem in Mülheim an der Ruhr angesiedelt ist – zur Zeit der Handlung Wohnort von Stahlmagnat Joseph Thyssen und weiteren Großverdienern. Die Rede endet mit den Worten: „Seit dem RUNDGANG DES FATZER DURCH DIE STADT MÜLHEIM, der in bösen Sätzen den Zusammenhang von Krieg und Geschäft reflektiert, hat sich an den Eigentumsverhältnissen in Mülheim wohl nicht viel geändert. Der Dramatikerpreis ist insofern etwas wie ein Ablaß.“

Ob die Kapitalismuskritik ein Zugeständnis an die DDR-Oberen war oder vielmehr Heiner Müllers ureigenem Denken entsprach, sei ebenso dahingestellt wie der Wahrheitsgehalt seiner Entschuldigung für sein Fernbleiben wegen Arbeitsüberlastung. Eine Reise ins Ruhrgebiet zu unternehmen, um sein Preisgeld abzuholen, wäre ihm seitens der SED-Führung vermutlich nicht verwehrt worden, wie die vielen anderen Reisen jener Jahre in den Westen zeigen. Vielleicht scheute er einfach die Auseinandersetzung mit gewissen Skeptikern wie dem Mülheimer Oberstadtdirektor Heinz Hager oder dem bekannten Theaterkritiker Georg Hensel, der ihm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1979 vorwarf, in dem prämierten Stück ein „propagandistisch verfälschendes Bild […] von der Vergangenheit der Bundesrepublik und der DDR“ gezeichnet zu haben. Sein Preisgeld durfte er ein Jahr später dennoch einkassieren – eine Meldung, die es sogar bis in den Spiegel schaffte.

5:4 für Ernst Jandl

In der Sitzung des Erweiterten Präsidiums der Deutschen Akademie vom 30. April 1984 bleibt die von Hans Paeschke erwartete „Schlacht“ unter den Jurorinnen und Juroren jedenfalls aus. Man ist sich weitgehend einig über Heiner Müllers „ungeheure Sprachkraft“, fühlt sich erinnert an Pier Paolo Pasolini und hadert nur ein wenig mit der mutmaßlich kommunistischen Weltanschauung des Dichters und Dramatikers. Selbst Bernhard Zellers Hinweis auf Müllers „Ablaß“-Assoziation in Bezug auf die Literaturpreise der Bundesrepublik, „mit denen die kapitalistische Welt sich freikaufe“, fällt nicht weiter ins Gewicht. Doch die Zeit scheint noch nicht reif für einen Büchner-Preisträger Heiner Müller. Bei der Abstimmung über die beiden in die engere Wahl gekommenen Kandidaten ist das knappe Ergebnis wie folgt: fünf Ja-Stimmen für Ernst Jandl, vier Ja-Stimmen für Heiner Müller und eine Stimment­haltung.

Faksimile handschriftliches Jury-Protokoll vom 30.4.1984, S. 7
Faksimile handschriftliches Jury-Protokoll vom 30.4.1984, S. 7
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Ein Kritiker aus Darmstadt

Ein gutes Jahr später, am 19. April 1985, tagt die Jury für den Georg-Büchner-Preis erneut im Glückert-Haus. Das Präsidium der Deutschen Akademie ist zwischen­zeitlich neu besetzt worden: Herbert Heckmann ist nunmehr gewählter Präsident, und die beiden neuen Vizes – neben dem abwesenden Ludwig Harig – sind Helmut Heißenbüttel und Hans-Martin Gauger. Erstmals seit einer „Verstimmung“ mit dem Generalsekretär im Herbst 1982 auch wieder dabei: Herman Dieter Betz als Vertreter des Hessischen Ministeriums für Wissen­schaft und Kunst. Während es bei den Beisitzern leichte Veränderungen gibt, sind Bürgermeister, Generalsekretär und Pressereferentin dieselben geblieben.

Anwesenheitsliste der Jury für den Georg-Büchner-Preis, 19. April 1985
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Auf die Liste der möglichen Kandidaten sind eine Reihe weiterer Namen gekommen, darunter eine Frau: Friederike Mayröcker. Nach einem längeren Wortwechsel zu der von Regierungsdirektor Betz aufgeworfenen Frage, warum eigentlich Ernst Jünger nie als Büchner-Preis-Kandidat diskutiert worden sei, „plädiert Herr Benz energisch für Heiner Müller“. Nun hat Frau Ritter-Santini Bedenken: Ihrer Meinung nach hätte die Auszeichnung an Müller ergehen sollen, als er noch nicht „so in Mode“ gewesen sei. Außerdem habe er in einem schon länger zurückliegenden Interview schlecht über Darmstadt und den Theaterkritiker Georg Hensel gesprochen, immerhin Merck-Preisträger und neu hinzugewähltes Akademie-Mitglied.

Besagtes Interview hatte Heiner Müller im Frühjahr 1982 den beiden Journalisten Matthias Matussek und Andreas Roßmann gegeben, damals tätig für das Berliner Stadtmagazin tip. Anlässlich der Uraufführung von Müllers „Quartett“ am Schauspielhaus Bochum am 7. April 1982 wurde das Interview im Programmheft erneut abgedruckt. Auf eine Hensel-Rezension seines Stückes „Der Auftrag“ angesprochen, das seine westdeutsche Erstaufführung am 16. Mai 1981 in Frankfurt und eine weitere am 13. Februar 1982 in Bochum erlebt hatte, lautete Müllers Reaktion: „Georg Hensel ist mein Lieblingskritiker. Der versteht natürlich überhaupt nichts. Das kann er auch gar nicht.“ – „Weil er aus Darmstadt kommt?“ – „Weiß ich nicht. Nein, aus einem prinzipiellen, sozusagen biologischen Vorurteil heraus. Der liest auch keine Stücke, bevor er sie gesehen hat. […] Wahrscheinlich hat er außerdem noch politische Vorurteile.“

Kontaktabzüge: Heiner Müller an der Schreibmaschine
© Maria Steinfeldt, Archiv der Akademie der Künste, Berlin

Auch Siegfried Unseld, die sogenannte Suhrkamp-Kultur und die FAZ, das „absolute Hetzblatt“, bekommen in dem Interview, das den Jurymitgliedern auszugsweise vorgelesen wird, ihr Fett weg. Präsident Heckmann schlägt schließlich vor, die despektierlichen Äußerungen Heiner Müllers nicht in die Entscheidung für oder gegen ihn als Büchner-Preisträger einfließen zu lassen. Am Ende sind von den insgesamt 13 Kandidaten und der einen Kandidatin nur noch vier übrig: Horst Bienek, Günter Kunert, Franz Mon und Heiner Müller. Bei Bienek und Mon herrscht scheinbar große Ratlosigkeit unter den Juroren: Ersterer erhält weder Ja- noch Nein-Stimmen, sondern lediglich zwölf Enthaltungen, während bei Mon Befürworter und Enthalter mit jeweils sechs Stimmen gleichauf liegen.

Von der Qualität eines Büchner

Eigentlich hätte es nun zu einer Endabstimmung zwischen Günter Kunert und Heiner Müller kommen müssen, doch nun spielt einer der beiden neuen Vizepräsidenten, der Romanist Hans-Martin Gauger, den advocatus diaboli. „[…] ob Müller nicht ein bißchen zu vulgär sei und ob es nicht doch schwer sei, überhaupt Argumente f ü r Müller zu finden“, fragt er in die Runde. Auch Regierungsdirektor Betz möchte lieber Müller als Kunert zurückstellen. Dem widersprechen die Herren Allemann, Sternberger und nicht zuletzt Paeschke, für den Müller noch immer die „Qualität eines Büchner“ hat, aufs Energischste. Am Ende geht die Stichwahl folgendermaßen aus: sieben Ja-Stimmen für Heiner Müller und vier Ja-Stimmen für Günter Kunert. Den zwei Nein-Stimmen für Müller stehen drei Enthaltungen gegenüber.

Zweimal telegrafiert Herbert Heckmann dem neuen Büchner-Preisträger an seine Adresse in der Erich-Kurtz-Straße 9 in Berlin-Friedrichsfelde, um ihn über die Entscheidung der Jury zu informieren: einmal am Sitzungstag selbst um 12.25 Uhr und einmal, nachdem eine Reaktion ausbleibt, drei Tage später. Müllers telegrafische Erwiderung vom 23. April 1985 ist denkbar kurz: „ICH NEHME DEN PREIS AN STOP HEINER MUELLER“.

Eine offizielle Mitteilung vom Generalsekretär an den Preisträger folgt eine gute Woche später. In diesem Schreiben bittet Gerhard Dette Heiner Müller auch darum, ihm seinen Wunschlaudator zu nennen – ohne darauf einzugehen, dass in der Jurysitzung bereits erste Namen diskutiert wurden. „Als mögliche Laudatoren werden genannt: Günther Rühle, Roland H. Wiegenstein und Reinhold Grimm. Frau Ritter-Santini gibt zu bedenken, ob nicht sozusagen aus diplomatischen Gründen wie ehedem bei Christa Wolf ein Laudator aus der Schweiz bestellt werden solle“, heißt es im Protokoll vom 19. April 1985.

Statt der Akademie wie insgesamt zweimal erbeten mitzuteilen, wen sie für ihn als Laudator bestellen soll, nimmt Heiner Müller die Sache selbst in die Hand. Einem undatierten Briefentwurf zufolge scheint er zunächst seinen langjährigen Fürsprecher Hans Mayer fragen zu wollen, ob dieser die ehrenvolle Aufgabe übernimmt. Der Literaturwissenschaftler und Büchner-Biograf hatte zwischen 1948 und 1963 ebenso berühmte wie überfüllte Vorlesungen an der Universität Leipzig gehalten und spätestens seit Müllers Ausschluss aus dem Schriftstellerverband nach der Uraufführung von „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ 1961 immer wieder Partei für ihn ergriffen.

Briefentwurf an Hans Mayer (rechte untere Ecke), undatiert
© Heiner Müller, henschel SCHAUSPIEL

Ob Heiner Müller seinen Brief an Hans Mayer jemals fertigstellte und abschickte und ob dieser im Falle des Falles überhaupt die Lobrede hätte halten wollen, wissen wir nicht. Am Ende ist es kein Geringerer als der Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens, den Müller gegenüber der Akademie ins Spiel bringt. Er habe mit Jens bereits verabredet, dass er „die Last der unvermeidlichen Laudatio“ auf sich nehmen werde, teilt er dem Generalsekretär zwei Monate nach Bekanntgabe seiner Wahl als Büchner-Preisträger mit. Walter Jens war seit 1950 bei den Treffen der Gruppe 47 aktiv, wurde 1962 zum Mitglied der Deutschen Akademie gewählt und war ab 1976 mehrere Jahre Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland – Heiner Müller hätte sich also kaum einen in der westdeutschen Intelligenzija bekannteren Laudator aussuchen können. Allein, er hatte ihm das falsche Datum genannt: Am 18. Oktober 1985, dem tatsächlichen Tag der Preisverleihung, war Walter Jens schon anderweitig vergeben.

Die Suche nach einem geeigneten Laudator wird fortgesetzt. Diesmal nimmt die Akademie die Sache selbst in die Hand. Ein Vorschlag aus dem Erweiterten Präsidium lautet „Christa Wolf“, doch auch Müllers Ostberliner Kollegin kann den Termin nicht wahrnehmen. Schließlich einigt man sich auf Helmut Krapp, einen gebürtigen Darmstädter, der über Georg Büchner promoviert hatte. Zum Zeitpunkt der Preisverleihung ist Krapp, der als Dramaturg an den Bühnen Düsseldorf und Frankfurt am Main sowie beim Hessischen Rundfunk gearbeitet hatte, Programmchef bei der Bavaria und doziert an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Eine Wahl also, bei der nichts schiefgehen kann.

Nun braucht es noch einen Verfasser für den Urkundentext. Weder Hans Paeschke, der sich doch so für den Kandidaten Müller engagiert hatte, noch der Generalsekretär wollen diese Pflichtaufgabe übernehmen. In seinem Brief vom 9. August 1985 an Co-Jurorin Lea Ritter-Santini, in dem er ihr den Arbeitsauftrag zuweist, macht Gerhard Dette keinen Hehl daraus, dass er diesen Preisträger nicht gewählt hätte.

Frau Ritter-Santini möchte ihrem Ruf als „die andere Müller-Votantin“ offenbar unbedingt gerecht werden und schickt gleich vier Entwürfe für den Urkundentext.

Georg-Büchner-Preis 1985 an Heiner Müller
Laudatio: Helmut Krapp
Dauer: 29:56
© Hessischer Rundfunk
Zeitungsausschnitt aus dem Darmstädter Echo vom 19. Oktober 1985
© Darmstädter Echo
Audio: Laudatio von Helmut Krapp auf Heiner Müller

Noch in der Woche vor der Preisverleihung wird im Präsidium an dem Text gefeilt. Am Ende preist die Deutsche Akademie Heiner Müller sowohl „für sein dramatisches Werk, das in der schmerzenden Wut seiner bildkräftigen Sprache Rebellion und Tradition vereint“ als auch „für seine unbequeme Theaterarbeit, mit der er das zeitgenössische Theater und sein Publikum unnachgiebig provoziert“.

Quiz für Eingeweihte in sechzehn Sätzen

Als unbequem und provozierend erachtet wird schließlich auch die Dankrede des Geehrten. Schon Helmut Krapp spricht bei der feierlichen Preisverleihung im Staatstheater Darmstadt am 18. Oktober 1985 in seiner Laudatio, die erwartungsgemäß auf einzelne Aspekte in Müllers Biografie, seinem Werk und seiner Sprache eingeht, von der „Dunkelheit, in deren Ruf die Texte von Heiner Müller oft geraten“. Dies scheint angesichts der Reaktionen auf die mit „Die Wunde Woyzeck“ betitelte Dankrede doch leicht untertrieben. In Anwesenheit von Bundespräsident Richard von Weizsäcker verliest Heiner Müller die zweitkürzeste Büchner-Preisrede, die je gehalten wurde – nur Thomas Bernhard hatte ihn an Knappheit fünfzehn Jahre zuvor noch übertroffen. Indes bewegt weniger die Zeichenzahl des Textes als sein kryptischer Inhalt die Gemüter. In einem Gespräch mit Heiner Müller zitiert Erich Fried kurz vor Erhalt seines eigenen Büchner-Preises zwei Jahre später den „schöne[n] Kommentar von irgendeinem der älteren Herren der Akademie, der sagte: ‚Wenigstens eine Rede hätte er halten können, der junge Mann!‘“ Verena Auffermann nennt die Nicht-Rede in der Süddeutschen Zeitung vom 21. Oktober 1985 ein „Quiz für Eingeweihte“, und ihr Kollege Joachim Kaiser erwägt sogar für einen Moment, sie gar nicht erst in der SZ-Wochenendausgabe abzudrucken, wie er im Vorspann zu Müllers Text bekennt. Und Gerhard Stadelmaiers Beitrag in der ZEIT vom 18. Oktober 1985, gehalten im Original-Müller-Sound, nennt sich zwar „Gratulation“, ist aber doch eher eine Persiflage.

Georg-Büchner-Preis 1985 an Heiner Müller
Dankrede
Dauer: 6:39
© Hessischer Rundfunk
ZEIT-Artikel von G. Stadelmaier vom 18.10.1985, Nr. 43/1985 © Gerhard Stadelmaier
Audio: Dankrede von Heiner Müller zum Georg-Büchner-Preis

Immerhin die Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen aus Ost und West freuen sich mit und für den Preisträger. Auch Willy Brandt gratuliert mit sanfter Ironie. Der Exkanzler und langjährige SPD-Vorsitzende war bekannt für seine Liebe zur Literatur und suchte vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren den Austausch mit namhaften deutschen Schriftstellern. Anlässlich eines offenbar von gegenseitiger Sympathie getragenen Treffens Mitte der Achtzigerjahre in West-Berlin bescheinigte Heiner Müller ihm dann auch laut Spiegel (17/1986), für einen Politiker „erstaunlich frei von Realitätsflucht“ zu sein.

Aber warum sind die Reaktionen auf Heiner Müllers Rede bei der Büchner-Preisverleihung teils so konsterniert? Was ist das Provozierende an „Die Wunde Woyzeck“? Ein Grund für die Ratlosigkeit oder Verärgerung mag an der Form des Textes liegen, der, wie Theater heute in einem Kommentar zum Abdruck in Heft 11/85 schreibt, „keine Dankesrede, kein Essay, sondern eine Assoziationskette aus ineinander geblendeten Gliedern [ist], ausgelöst von Büchners Woyzeck“. Müllers Rede ist ein literarischer Text, wodurch er sich die Freiheit nehmen kann, Dinge zu sagen oder auch nur anzudeuten, die er sonst vermutlich nicht hätte sagen können – sowohl den DDR-Obrigkeiten gegenüber als auch dem westdeutschen Publikum. Allein die Erwähnung des Namens von Ulrike Meinhof, „Tochter Preußens“, und die implizite Warnung vor einem dritten Weltkrieg „im Atomblitz, der das Ende der Utopien und der Beginn einer Wirklichkeit jenseits des Menschen sein wird“, im hehren Kontext „Georg Büchner“ dürften genügt haben, um in den politisch aufgeladenen Achtzigerjahren manch Zuhörer in Darmstadt zu düpieren. Hinzu kommen die Widmung der Rede an Nelson Mandela und Müllers Hinweis vor deren Verlesen auf die am Morgen der Preisverleihung vollzogene Hinrichtung des südafrikanischen Dichters und Aktivisten Benjamin Moloise durch das Apartheidregime.

Hessenschau über die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Heiner Müller
© Hessischer Rundfunk

Die Übergabe der Urkunde im Staatstheater und der anschließende Empfang in der Orangerie Darmstadt erfolgen dennoch ohne Zwischenfälle. Heiner Müller posiert gut gelaunt für Fotos – sei es mit dem Präsidenten der Bundes­republik Deutschland, dem Präsidenten der Deutschen Akademie oder beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt unter Aufsicht des Oberbürgermeisters. Die Anwesen­heit von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Preisverleihung in Darmstadt war übrigens keine Selbstverständlichkeit, wie sich auch der Schweizer Schriftsteller Christoph Geiser erinnert, der 1985 erstmals die Herbsttagung der Akademie besuchte (siehe Audio-Button auf der Zeitungsseite). Der mit dem Hubschrauber eingeflogene Weizsäcker wurde von der hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst Vera Rüdiger und von Oberbürgermeister Günther Metzger empfangen und von halb Darmstadt freudig begrüßt.

Der Schriftsteller Christoph Geiser, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Zeitzeuge der Büchner-Preisverleihung an Heiner Müller, erinnert sich.
Dauer 7:50
© Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Tagblatt, 19.10.1985, © Darmstädter Echo
Audio: Christoph Geiser erinnert sich an die Akademie-Tagung und Preisverleihung 1985.

Ein Zirkus für 30.000 Mark

Bei einem Publikumsgespräch im Darmstädter Georg Büchner Buchladen am Tag nach der Preisverleihung bezieht Heiner Müller Stellung zu seiner Rede. Eigentlich ist die Veranstaltung als Lesung mit anschließender Fragestunde gedacht, doch der Dramatiker hat keine Lust, sich als „Verkaufsobjekt“ fühlen zu müssen und den Anwesenden etwas vorzutragen, von dem er gar nicht weiß, ob es jemand hören will. Sein Widerwille gegen solche Veranstaltungen, wie im Übrigen auch gegen die Preisverleihung selbst, sei grundsätzlich, erklärt er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern. „Und dann kommt der Krampf, daß man darauf wartet, daß man dran ist, wie immer bei Sportveranstaltungen oder was immer. Und man ist nur noch eingestellt auf den Moment, wo man drankommt. Das ist wie Abitur oder Jugendweihe oder Konfirmation.“ Fast noch schlimmer: die Kleiderfrage, für ihn ein „existentielles Problem, weil ich weiß genau, wenn ich ein Hemd anziehe […], bin ich für mich selbst irgendwie eine etwas fremde Figur“.

Autor und Publikum einigen sich darauf, dass er die Preisrede noch einmal vorliest und immer dann unterbrochen werden kann, wenn etwas unklar ist. Die ersten Fragen bewegen sich noch nah am Text. So äußert sich Müller etwa über den Zusammenhang zwischen Ulrike Meinhof, Heinrich von Kleist und Brechts „Maßnahme“ in seiner Rede und erklärt, warum diese so „ungeheuer auslegbar“ geworden ist: „Ich lebe in Ostberlin, in der DDR. Ich schreibe also diesen Text, […] weil ich einen westdeutschen Literaturpreis kriege, was für die DDR ein Affront ist. […] Und ich will das Eine sagen und will das Andere sagen, und kann das eigentlich nur in einer metaphorischen Weise sagen und nicht journalistisch konkret. Weil dann wird es falsch, dann wird es sofort benutzbar von der einen oder anderen Seite.“

Aber schon bald verselbständigt sich die Diskussion, und man kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Wie Müllers Verhältnis einerseits zu Brecht und andererseits zu den jüngeren DDR-Autoren wie Sascha Anderson sei, will ein Fragesteller wissen. Warum er, anders als viele seiner ostdeutschen Kollegen, die DDR nicht verlassen habe, fragt ein anderer. Und ein Dritter erkundigt sich nach seiner „Todesverliebtheit“. Schließlich sagt Heiner Müller einen Satz, der heute undenkbar wäre. Doch 1986 kann dieser Satz sogar zum Titel des schmalen Bändchens mit dem Abdruck des Publikumsgesprächs werden: „Ich bin ein Neger.“

Auch am Abend der Preisverleihung sei er ein Neger gewesen, so Heiner Müller weiter, ebenso wie in seiner Jugend als „Sohn von Eltern, die bestimmte Dinge nicht kaufen konnten, die andere kaufen konnten“. Und nur aus dem Grund, weil „Neger […] sich ungeheuer viel gefallen [lassen]“, habe er das ganze Zeremoniell rund um die Preisverleihung überhaupt ertragen können. Abgesehen von den „30.000 Mark, Entschuldigung, und ein Zirkus für 30.000 Mark, also …“

Drei Jahre später, in seinem Beitrag in Konrad Herrmanns Büchner-Film „Lieb Georg“, kommt er auf diese Aussage und seine „dem dienstältesten Gefangenen der Welt“ Nelson Mandela gewidmete Preisrede erneut zurück. Die Rassenfrage sei nichts anderes als die Klassenfrage, heißt es da, und somit sei auch Woyzeck „ein weißer Neger“.

Ein letztes Mal kehrt Heiner Müller fast auf den Tag genau zehn Jahre nach der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises nach Darmstadt zurück. Diesmal steht er als Laudator auf der Bühne des Staatstheaters, um eine Lobrede auf den damals erst 33-jährigen Durs Grünbein zu halten, nach Peter Handke bis heute der jüngste aller Büchner-Preisträger. Zwei Monate später, am 30. Dezember 1995, stirbt Heiner Müller an Speiseröhrenkrebs.

Einladung und Publikation zur Diskussionsveranstaltung mit Heiner Müller
am Tag nach der Preisverleihung im Georg Büchner Buchladen in Darmstadt
© Georg Büchner Buchladen / Verlag Jürgen Häusser, 1994
Publikation der Diskussionsveranstaltung im Georg Büchner Buchladen, Darmstadt

(Die Zitate im Textabschnitt „Ein Zirkus für 30.000 Mark“ entstammen alle der oben abgebildeten Publikation „Ich bin ein Neger. Eine Diskussion mit Heiner Müller“, © Jürgen Häusser Verlag, Darmstadt 1994).
© Darmstädter Echo, 21.10.1985